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    „Falsche Scham ist gesundheitlich kontraproduktiv“

    Was ist Ihrer Meinung nach das größte Tabu in unserer Gesellschaft?

    Sexualität, ganz klar. Einerseits wird sie – zum Beispiel als Pornografie im Internet – für jeden zugänglich ausgelebt, gesehen, besprochen und zitiert; aber eigentlich haben die Menschen damit doch ein Riesenproblem. Sie sind peinlich berührt, haben Angst, darüber zu reden, kennen sich nicht mit ihrem Körper aus, ihnen sind viele Vorgänge nicht klar, sie trauen sich nicht, sich anzufassen, sich zu untersuchen – und mit anderen über Probleme in diesem Bereich zu sprechen. Da gibt es eine große Diskrepanz zwischen der öffentlichen Wahrnehmung des sexuell besetzten Tabus und dem persönlichen, privaten Umgang damit.

    Das nächste große Tabu ist das Altern. Das Altern erinnert uns an den Tod – und der Tod ist für den „herrlichen Menschen“ eine schreckliche Kränkung. Alles, was uns an den Tod und diese Kränkung erinnert, wird verdrängt und abgewehrt: Falten kriegen, krumm werden, gebrechlich sein, der Verlust körperlicher und geistiger Fähigkeiten und der Sexualfunktion.

    Sie sind Ärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten und täglich mit den Tabuthemen Ihrer Patienten konfrontiert. Gab es eine Situation, die selbst Sie sprachlos gemacht hat?

    Das gibt es immer wieder. Zum Beispiel eine wirklich schöne junge Frau, die so unzufrieden mit sich war, dass alles an ihr verändert, gespritzt, gebotoxt werden sollte. Das habe ich als Ärztin abgelehnt, weil ich da eine Grenze überschritten sah. Sie hat sich dann bei vielen verschiedenen Ärzten alle Maßnahmen erkauft – und kam danach zu mir, damit ich die Narben wegmache, die durch Lifting, Fettabsaugung, Brustvergrößerung entstanden waren. Dieses massive An-sich-Herummanipulieren und den Wahn zu haben, alles für Geld kaufen zu können – das hat mich erschreckt.

    Wenn es um heikle Körperthemen geht, zögern Menschen gern vor dem Arztbesuch. Warum?

    Aus Angst. Vor der Diagnose, vor der Wahrheit. Wir haben Angst, einen Tabubruch zu begehen, über ein schambesetztes Thema zu sprechen, untersucht zu werden an Stellen, die wir eigentlich nicht zeigen wollen. Dann traut man sich nicht, dem Arzt die Wahrheit zu sagen – und dann wird es ernst, denn natürlich können Krankheiten, je länger man sie „machen“ lässt, immer problematischer werden, chronisch werden, Spätschäden verursachen.

    Wie zum Beispiel ein junger Familienvater, der Schmerzen am Po hatte, aber seine Frau nicht gucken ließ. Sie dachte, er hätte eine Analvenenthrombose, was sehr schmerzhaft, aber nicht schlimm ist. Sie hätte gerne mal nachgesehen, aber „an seinen Po lässt er nur Wasser und Schlüpfer“. Als er nach ein paar Tagen gar nicht mehr sitzen konnte, hat er sie dann doch gucken lassen, und da sah man am Po schon so ein dickes, lilarotes Ding. Er hatte eine Analfistel und musste sofort notoperiert werden. Hätte er auch nur einen Tag länger gewartet, wäre sein Schließmuskel zerstört worden. Er wäre für immer stuhlinkontinent gewesen! Also rechtzeitig reden ist wichtig. Wir Ärzte haben ja auch meist schon alles Mögliche gesehen – nichts Menschliches ist uns fremd. Wer da über seinen Schatten springt, wird sehr schnell merken, dass das gar keine so große Sache ist. Außerdem sind Ärzte ja auch „Privatmenschen“, die vielleicht die ein oder andere Peinlichkeit selbst kennen.

    Gilt das für jedes Alter und Geschlecht oder gibt es Unterschiede?

    Junge Leute fragen sich eher, ob sie schlank genug sind, ob sie fit genug sind, ob sie den Schönheitsidealen genügen. Wenn man älter wird, verschieben sich die Tabus ein bisschen. Die Männer haben als größte Tabuthemen die erektile Dysfunktion und das Schnarchen, weil das so eine Art Kon-
    trollverlust bedeutet und das Schnarchen „unsexy“ ist. Frauen schämen sich eher für Zeichen des Alters, Haarausfall, aber auch für Darmprobleme und Körpergerüche.

    Gibt es Phänomene, über die wirklich Niemand spricht?

    Alle Themen im Intim- und Analbereich sind sehr tabubesetzt, und zwar eigentlich bei allen Menschen. Das zu zeigen, darüber zu reden, die Angst vor irgendeiner Krankheit; das ist „was Schmutziges“, das hat mit Sex zu tun, darüber reden die Leute nicht gerne. Auch über „harmlose“ Sachen wie eine trockene Scheide wegen Hormonumstellung oder Jucken im Intimbereich wegen zu viel Seife. Alles, was nicht nur einen körperlichen Makel darstellt, sondern auch noch sozial, kulturell oder moralisch „verpönt“ ist.

    Ein weiteres tabuisiertes Thema ist die Libido. Viele Frauen, die die Pille nehmen oder in der Postmenopause sind, haben damit Schwierigkeiten. Man kann das lösen – man muss es bloß ansprechen. In der Postmenopause wird auch die Scheide häufig trocken und fühlt sich an wie Sandpapier, was lästig ist und juckt und beim Sex natürlich wirklich schmerzhaft sein kann. Auch da kann man, abgesehen von Gels und Gleitmitteln, viel machen, zum Beispiel über lokale Hormontherapien nachdenken oder mit moderner Lasertechnik die Schleimhaut wieder „saftig“ lasern. Aber wenn man nicht drüber redet, kann das Problem eben nicht gelöst werden.

    Jede Zeit und jede Kultur hat ihre eigenen Tabus. Was hat sich seit dem Beginn Ihrer Tätigkeit als Ärztin geändert?

    Vor allem das Thema Intimbehaarung hat sich sehr geändert. Als ich vor 20 Jahren anfing, hatten alle noch Schamhaare. Heute enthaaren sich viele Menschen, nicht nur die Jungen, sondern auch die Älteren. Und entsprechend beschäftigen sie sich auch mehr mit der Optik ihrer Intimregion. Das ist also kein so großes Tabu mehr. Andererseits ist vielen gar nicht bewusst, dass die Intimbehaarung einen Sinn hat. Sie belüftet die Region und verhindert, dass Haut auf Haut liegt; wo es schwitzig und warm ist, können Erreger sich leichter verbreiten. Die Schambehaarung dient als körpereigene Klimaanlage, wie so ein Baumwollschlüpfer – und verwedelt außerdem unseren Lockstoff, den wir fürs „erotische Duftmarketing“ benötigen. Ob man die Schamhaare entfernt oder nicht, bleibt wohl eine Geschmackssache. Der medizinische Hintergrund ist jedenfalls kaum bekannt.

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