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    „Ich kann ein nahezu normales Leben führen.“

    Mit 17 wurde meine Hörschädigung das erste Mal diagnostiziert, damals war ich mittelgradig schwerhörig und die Ärzte versicherten mir, dass es dabei bleiben wird. Doch letztendlich wurde mein Gehör dann doch schlechter, mit 19 war ich dann hochgradig schwerhörig. Wieder bekam ich die „sichere“ Aussage der Ärzte, dass alles dabei bleiben wird, aber dieses Mal konnte ich das einfach nicht mehr glauben und ging immer wieder voller Angst zum Arzt, um ein Update zu machen.

    Letztendlich konnte ich fast schon zuschauen, wie mein Gehör alle halbe Jahre schlechter war, und ich fragte mich schon, wie mein Leben als Taube wohl weitergehen sollte. Aber so schnell konnte ich mich darauf gar nicht einstellen, denn mit 20 wurde mir dann schon die Diagnose „taub“ verpasst und eine Empfehlung gegeben, sich einmal Gedanken zu einer Cochlea-Implantation zu machen. So viele Gedanken ich mir auch schon gemacht hatte zu dieser Situation, es war trotzdem ein schrecklicher Schock für mich und fühlte sich an, als sei ein mir sehr vertrauter Mensch verstorben.

    Das Hören muss „neu“ gelernt werden

    Monatelang habe ich Trauerarbeit um mein Gehör geleistet und nebenbei die erste Implantation vorbereitet. Am Anfang wusste ich gar nicht, was so ein Cochlea-Implantat ist, doch mit der Zeit erfuhr ich, dass man damit wohl wieder hören lernen kann nach einer Ertaubung. Dabei wird ein Kabel mit Elektroden in die Hörschnecke operativ eingeführt. Nach der Verheilung wird dann mit einem Gerät von außen, das ähnlich aussieht wie ein Hörgerät, Kontakt zu diesem Kabel aufgenommen und es werden elektrische Impulse direkt an den Hörnerv geleitet. Die Haarsinneszellen, die bei vielen ertaubten Menschen abgestorben sind, werden also umgangen und die akustischen Reize kommen wieder im Gehirn an.

    Jetzt im Nachhinein fällt es mir schwer zu sagen, wie es mir all die fünf Jahre mit der Diagnose ging und wie ich den Verlauf im Nachhinein wahrnehme.

    Das bedeutet jedoch, dass wieder neue Verbindungen hergestellt werden müssen. All die neuen Geräusche müssen „neu“ kennengelernt werden und zugeordnet. Man muss also, ähnlich wie ein Kleinkind, komplett neu hören lernen. In meiner Klinik wird man dabei von einer Gruppe von Fachleuten unterstützt in einer zweijährigen ambulanten Reha. Die Cochlea-Implantate werden da immer wieder neu angepasst, es gibt Hörtraining und das Team begleitet einen emotional und informiert über technische Hilfen im Alltag.

    Am Anfang konnte mir niemand sagen, ob ich Erfolg haben werde mit dem Implantat, es hieß nur, ich hätte gute Voraussetzungen. Aber dem Risiko wollte ich mich dennoch stellen und entschied mich für die Operation im August 2016, für die Rehabilitation und das neue Hören. Das war hart, anstrengend und zehrend, ein komplett neuer Lebensabschnitt begann. Aber im Endeffekt hatte ich großes Glück und lernte schnell, es verlief alles gut und ich höre nun immer besser. Und im Februar 2017 bekam ich dann das zweite Implantat.

    Die Diagnose hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen

    Jetzt im Nachhinein fällt es mir schwer zu sagen, wie es mir all die fünf Jahre mit der Diagnose ging und wie ich den Verlauf im Nachhinein wahrnehme. Klar ist, dass die erste und die letzte Diagnose für mich ein absoluter Schock waren, es hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen und ich dachte, mein Leben wäre jetzt vorbei. Denn leider hatte ich sehr unpassende Träume und Leidenschaften: Ich wollte unbedingt Musik studieren, später dann Soziale Arbeit und ich tanzte und musizierte für mein Leben gerne.

    Mein Leben ist zwar vielleicht ein bisschen anstrengender als das der anderen, aber eigentlich alle profitieren von dem Umdenken und dem Erleben einer gelungenen Inklusion.

    All dies musste ich nun infrage stellen, die Musik musste ich fürs Erste komplett aus meinem Leben streichen und für die Soziale Arbeit viel Mut, Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen sammeln. Aber all das machte mich stärker und ich fing an, um Ecken zu denken, wurde kreativ, lernte kennen, was ich brauchte. Und letztendlich traute ich mich und begann tatsächlich, Soziale Arbeit zu studieren. Und ich muss wirklich sagen, das war die beste Entscheidung meines Lebens.

    Denn nun kann ich ein nahezu ganz normales Leben führen. Hier im Studium muss ich zwar erst erklären, worauf man bei mir Rücksicht nehmen muss, aber wenn ich darauf beharre und mich immer wieder dafür einsetze, dann komme ich fast überall gut mit. Mittlerweile habe ich hier viele Freunde, schreibe gute Noten und beteilige mich an der Hochschulpolitik.

    Ich bin an meiner Aufgabe gewachsen

    Mein Leben ist zwar vielleicht ein bisschen anstrengender als das der anderen, aber eigentlich alle profitieren von dem Umdenken und dem Erleben einer gelungenen Inklusion. Ich denke, all das wäre nicht so gut gelungen, hätte ich nicht meine Freunde und die Familie die ganze Zeit im Rücken gehabt. Ich wurde immer wieder bestärkt, mein Ding zu machen, mir wurde zugehört, wenn ich verzweifelte, und ich wurde unterstützt, wenn ich mal auf Barrieren stieß.

    Mein Umfeld zeigte mir, dass das Leben trotzdem schön sein kann, als ich noch völlig daran zweifelte. Zum Glück wurde mir auch schon von klein auf beigebracht, dass man auf seine Rechte bestehen soll und sich nicht schlecht fühlen muss, wenn man besondere Bedürfnisse hat. Mir wurde immer gezeigt, dass es gut ist, den Mund aufzumachen und für sich einzustehen. Und ohne diese Kompetenzen wäre ich jetzt nicht da, wo ich nun stehe. Ich bin also gewachsen an meiner Aufgabe. Aus der absoluten Verzweiflung und Resignation entstanden Mut und Optimismus.

    Und ich hoffe, dass mich all das in Zukunft immer weniger anstrengen wird. Vielleicht ist es ja tatsächlich möglich, wirklich voll und ganz inkludiert zu werden, ohne kräftezehrenden Aufwand, ohne ständiges Rechtfertigen und Schlechtfühlen. Es wäre schön, wenn jeder sich ein bisschen Gedanken machen würde, wie er seinem Gegenüber das Leben ein klein wenig erleichtern kann, denn so entsteht meiner Meinung nach Gleichheit und Solidarität. Ich denke, das könnte allen zugutekommen, denn insgeheim wünscht sich doch wohl jeder einen wertschätzenden liebevollen Umgang.

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