GESUNDHEIT MUSS VERSTANDEN WERDEN ALS DYNAMISCHES ZUSAMMENSPIEL VON KÖRPER, KOPF UND PSYCHE – VON BIOLOGISCHEN PROZESSEN, BEDEUTUNGEN UND ERFAHRUNGEN IM ALLTAG.
Prof. Dr. med. Dagny Holle-Lee
Oberärztin der Klinik für Neurologie, Leiterin Westdeutsches Kopfschmerzzentrum Universitätsklinikum Essen
Die Medizin steht an einer Zeitenwende. Jahrzehntelang galt Gesundheit als das bloße Fehlen von Krankheit – ein Zustand, der sich mit Diagnose und passender Therapie klar bestimmen ließ. Doch dieses Bild greift zu kurz. Gesundheit muss verstanden werden als dynamisches Zusammenspiel von Körper, Kopf und Psyche – von biologischen Prozessen, Bedeutungen und Erfahrungen im Alltag. Entscheidend ist, wie wir Symptome wahrnehmen, deuten und bewerten: Ein Kopfschmerz beispielsweise kann bedrohlich erscheinen oder banal – je nachdem, welche Bedeutung wir ihm im individuellen Lebenskontext zuschreiben. Diese Perspektive öffnet den Raum für eine Medizin, die neurobiologische Mechanismen, psychische Prozesse und soziale Lebenswirklichkeit gemeinsam denkt.
Das fordert auch die klassische Rollenverteilung heraus. Ärztinnen und Ärzte „verabreichen“ nicht nur Therapien – sie gestalten Kontexte, die Wirksamkeit ermöglichen. Patientinnen und Patienten sind nicht bloß Empfänger, sondern aktive Ko-Autoren ihrer Genesung, ausgestattet mit Selbstwirksamkeit, informierter Entscheidung und gelebter Compliance. Eine partnerschaftliche Medizin erkennt Menschen als Expertinnen und Experten ihres eigenen Körpers an und bringt klinisches Wissen mit gelebtem Alltag in Einklang.
Gleichzeitig darf die technologische Exzellenz moderner Diagnostik das Wesentliche nicht verdecken: den Menschen. Neurologische Erkrankungen – von Migräne über Epilepsie bis Parkinson oder Multiple Sklerose – greifen tief in Aufmerksamkeit, Stimmung, Antrieb und soziale Teilhabe ein und können Angst, Depression und Erschöpfung verstärken. Sie verändern damit nicht nur Funktionen, sondern auch Lebensqualität und Beziehungserleben; umgekehrt beeinflussen psychische Belastungen Schmerzwahrnehmung, Krankheitsverarbeitung und Therapieerfolg. Wer heilen will, muss diesen zirkulären Einfluss ernst nehmen. Vor diesem Hintergrund gewinnt eine integrierte Versorgung an Bedeutung: evidenzbasierte Pharmakotherapie und Technik – ja –, aber ebenso Gespräch, Psychoedukation, Stressregulation, Schlaf- und Bewegungshygiene, verlässliche Beziehung und digitale Unterstützung, die Orientierung geben, statt zu überfordern. Gerade bei Migräne und chronischen Schmerzen zeigt sich: Selbstwirksamkeit ist kein Randthema, sondern ein Wirkfaktor.
Die großen Fortschritte der Medizin werden nicht allein aus neuen Wirkstoffen oder technischen Innovationen kommen. Sie werden entstehen, wenn wir Körper, Gehirn und Seele zusammenführen – und begreifen, dass Heilung nicht nur im Wirkstoff steckt, sondern in Erwartung, Verständnis und dem Vertrauen, das wir gemeinsam gestalten.
Weitere Informationen finden Sie auf Instagram!




