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    „Der Wille kann Berge versetzen“

    Foto: Ehsan Bordbar

    Die Geschichte von Saliya Kahawatte klingt unglaublich. Als Jugendlicher verlor er sein Augenlicht, verheimlichte das dann aber jahrelang und machte dennoch Karriere. Im Interview spricht er über seine Geschichte und macht anderen Mut.

    Als Teenager haben Sie fast Ihre gesamte Sehkraft verloren. Woran lag das und wie hat sich das bemerkbar gemacht?

    Ich sollte zum Ende der 9. Klasse ein Referat vortragen. Den Text hatte ich stichpunktartig zwei Tage vorher notiert. Als ich am Tag des Vortrags in die Schule fuhr, merkte ich schon, dass ich den Busfahrplan nicht mehr richtig sehen konnte. Dann stand ich schwitzend vor meinen Mitschülern und konnte die Wörter auf dem Zettel nicht mehr erkennen – alles war verschwommen. Meine Mitschüler lachten und der Lehrer gab mir eine Sechs. Noch am selben Tag fuhr meine Mutter mit mir in die Augenklinik, wo ich die Diagnose „schwere Netzhautablösung“ bekam – ich hatte quasi über Nacht mein Augenlicht verloren, konnte nur noch Schatten wahrnehmen und war von nun an 100 Prozent schwerbehindert.

    Was bedeutete das für Sie?

    Nie wieder BMX-Rad fahren, nie wieder Fußball spielen, nachmittags einfach so mit den Kumpels abhängen – unmöglich. Mein Teenie-Dasein war vorbei, von heute auf morgen musste ich erwachsen werden – das war wie ein Schlag ins Gesicht.

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    Wie haben Sie das verkraftet?

    Ich bin von Natur aus ein schlechter Verlierer und habe eine resiliente Grundeinstellung. Also habe ich sehr schnell nach der Diagnose positiv in die Zukunft geschaut. Denn wenn man im Leben ein Problem hat, dann bleiben einem zwei Optionen. Entweder man ist Teil des Problems oder wird Teil der Lösung – das habe ich sehr schnell erkannt und zu meinem Lebensmotto gemacht.

    Fotos: Saliya Kahawatte

    Wie ging es weiter?

    Man wollte mich auf eine Blindenschule schicken, wollte, dass ich Blindenschrift lerne und von nun an eben das Leben eines Blinden führe. Dagegen habe ich mich mit Händen und Füßen gewehrt. Ich wollte ein normales Leben führen und habe einen Deal mit meinen Lehrern gemacht: Gebt mir ein Schuljahr. Wenn ich es mit meiner Sehbehinderung nicht schaffe mitzuhalten, gehe ich freiwillig.

    Und?

    Ich habe das Abitur unter normalen Bedingungen geschafft.

    Was man kaum glauben mag: Sie haben nach dem Abitur eine Lehre im Hotel begonnen, ohne dass dort jemand von Ihrer Sehbeeinträchtigung wusste. Warum haben Sie Ihr Handicap verschwiegen?

    Durch viele Reisen mit meinen Eltern fand ich den Beruf des Kellners schon immer interessant. Teller abräumen, einschenken, mit Gästen plaudern – das gefiel mir. Da kam dann wieder mein rebellisches Teenie-Ich in mir zum Vorschein: Ich kann das auch – trotz Sehbehinderung. Also begann ich, Bewerbungen zu schreiben, in denen ich mein Handicap auch offen darlegte – und bekam nur Absagen. Also musste Plan B her: Behinderung verdecken und es einfach mal versuchen. Schon hatte ich einen Ausbildungsplatz.

    Wie haben Sie den stressigen Arbeitsalltag im Hotel gemeistert?

    Anfangs machte ich natürlich fast alles falsch und habe sehr viel Ärger bekommen. Doch schnell habe ich gemerkt, dass man visuell einiges kompensieren kann. Vieles machte ich anders als die sehenden Auszubildenden. Am Klang eines Glases hörte ich, ob es richtig poliert war oder nicht. Alle 400 Artikelnummern hatte ich auswendig gelernt und konnte so Bestellungen in die Kasse eingeben, ohne die Nummern von Zetteln abzulesen, die über der Kasse hingen.

    Für sehende Menschen klingt das unglaublich.

    Es ist eben nichts unmöglich. Tatsächlich prägte ich mir die Zahl der Treppenstufen genau ein und erkannte am unterschiedlichen Bodenbelag, wo genau im Restaurant ich gerade war. Die Menükarte hatte ich im Kopf, ich brauchte nichts nachschlagen. Ein Gefühl, wie viel Flüssigkeit in welcher Zeit aus einer Flasche floss, entwickelte ich schnell und lernte so, Wein korrekt in Gläser auszuschenken – ohne es zu sehen. Ich war genauso gut wie meine sehenden Kollegen und machte sogar Karriere. Ich war Stationskellner, Oberkellner und Ausbilder. Als die Digitalisierung kam, konnte ich nicht mehr mithalten. Insgesamt habe ich 14 Jahre in der Hotellerie überlebt – und habe auch einen großen Preis dafür bezahlt.

    Wie meinen Sie das? Bitte erklären Sie das genauer.

    Ich war sehr einsam und unglücklich. Nur zu schweigen, hat meine Seele krank gemacht. Über die Jahre wurde ich mehrfachabhängig – Drogen, Medikamente und Alkohol waren mein Ventil. Es kam der totale Absturz. Nach einigen Selbstmordversuchen landete ich in der geschlossenen Psychiatrie. Mit 32 Jahren war ich am Tiefpunkt in meinem Leben angekommen.

    Wie hat sich Ihr Leben dadurch verändert?

    Ich habe beschlossen, das Lügen zu beenden und endlich zu mir selbst zu stehen. Ich war auf der Blindenschule, habe einige IT- und Softwarekurse besucht und mich dann dazu entschieden zu studieren. So kam es, dass ich Hotelmanagement studierte. Diesmal wusste jedoch jeder von meinem Handicap. 2006 hatte ich den internationalen Managementabschluss mit der Note 1,9 in der Tasche.

    Doch heute arbeiten Sie gar nicht mehr in der Hotellerie.

    Nach 250 Bewerbungen, in denen ich mein Handicap offenlegte, und 250 Absagen habe ich mich endgültig von dieser Branche verabschiedet. Einen blinden Hotelmanager wollte keiner. Der Rebell in mir kam wieder durch und ich machte mich ohne Kapital aus ALG II heraus selbstständig. Ich beschloss, meine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Im Jahr 2009 erschien meine Autobiografie „Mein Blind Date mit dem Leben“ und schaffte es auf die Bestsellerliste. Meine Story wurde 2017 Stoff für einen Kinofilm, der um die Welt ging. Das macht mich natürlich stolz.

    Welche Hilfsmittel erleichtern Ihnen den Alltag?

    Ich habe das große Glück, in einer digitalen Welt zu leben. Ein Kamerasystem an der Brille erleichtert mir das Leben immens, denn das System ist wie ein digitales Auge, was hilft, mich zurechtzufinden.

    Bitte nennen Sie uns ein Beispiel.

    Die Kamera hat fast 100 Gesichter aus meinem Umfeld eingespeichert. Und wenn ich beispielsweise zum Sport gehe, erkennt sie, dass mein Trainer Marc am Empfang steht, und flüstert mir ins Ohr: „Marc“. So kann ich reingehen und ihn mit „Hallo, Marc“ begrüßen. Ich kann dadurch selbstständig einkaufen, weil die Kamera den Barcode der Produkte erkennen kann und mir sagt, was ich in den Händen halte. Ich kann so auch Texte erfassen. Die Kamera fotografiert den Text ab und liest ihn mir vor. Ich bin sehr dankbar, dass ich diese Technik nutzen darf. Und das Beste ist: Es wird, soweit ich weiß, über die Kasse finanziert – jeder Mensch mit Sehbehinderung sollte
    so ein Kamerasystem haben.

    Was machen Sie heute beruflich und was sind Ihre nächsten größeren Projekte?

    Ich arbeite heute als Business Coach, Motivationstrainer und Vortragsredner. Zudem unterstütze ich mit der Saliya Foundation Menschen mit Augenproblemen in Deutschland. Anderen Menschen zu helfen, ist mir wichtiger, als eine Rolex zu tregen, die ich sowieso nicht sehen kann, oder ein teures Auto zu besitzen. Statussymbole brauche ich wirklich nicht. Wenn Menschen mir schreiben, wie es ihnen geht, wie sie mit einer Sehbehinderung durchs Leben gehen, und ich sie motivieren kann oder sie inspiriere, dann macht mich das glücklich.

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