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    Leben mit 17 Dioptrien

    Foto: Luliia Pilipeichenko via Shutterstock

    Katrin H. ist 46 Jahre alt, Buchhalterin und leidet an pathologischer Myopie, einer seltenen, schweren Form der Kurzsichtigkeit. Im Interview spricht sie über den Alltag mit einer Sehbehinderung, ihre Ängste und die Selbsthilfe.

    Frau H., erzählen Sie doch zunächst, was es mit Ihrer Kurzsichtigkeit auf sich hat.

    Eine leichte Kurzsichtigkeit bewegt sich bei rund zwei Dioptrien. Bei mir ist das leider anders. Schon als Kind bin ich ziemlich hoch eingestiegen. Mit neun Jahren hatte ich bereits neun Dioptrien. Zwischen 15 und 17 Dioptrien haben sich die Augen eingependelt. Das kann man natürlich mit einer „normalen“ Kurzsichtigkeit, wie sie Millionen von Menschen haben, nicht vergleichen.

    Wann und wie wurde die starke Kurzsichtigkeit bei Ihnen festgestellt?

    Als ich zwei Jahre alt war, hat die Kinderärztin meine Mutter darauf hingewiesen, dass ich schielen würde. Wir wurden in die Augenklinik geschickt, die allerdings eine Behandlung ablehnte, da ich noch zu klein war. Ein, zwei Jahre später hatte ich bereits eine hohe Dioptrienzahl.

    Hat Sie Ihre Erkrankung in der Kindheit und Jugend eingeschränkt?

    Schon als kleines Mädchen hatte ich eine Brille mit ziemlich dicken Gläsern, und als ich in die Schule kam, wurde ich deshalb oft gehänselt und war eher ein Außenseiter. Zudem musste ich immer in der ersten Reihe sitzen, um alles, was an der Tafel steht, lesen zu können. Das hat die Situation nicht einfacher gemacht. Diese Zeit war nicht leicht für mich. Auch in der Berufswahl hat mich meine starke Kurzsichtigkeit behindert. Mir wurde beispielsweise geraten, alle Berufe, in denen ich schwer heben muss, nicht zu machen. Aufgrund meiner Kurzsichtigkeit musste ich zu einer Sonderberufsberatung, in der man mir erklärte, dass für mich lediglich sechs Berufsgruppen infrage kämen. 

    Was haben Ihre Eltern richtig gemacht, was Sie auch anderen Eltern mit kurzsichtigen Kindern raten würden?

    Sie haben alle Termine regelmäßig wahrgenommen, ich hatte immer aktuelle Brillen und auch Ersatzbrillen, weil als Kind ja auch mal etwas verloren oder kaputt geht. Ich hatte Sport- und Sonnenbrillen. Meine Eltern haben alles gemacht, um mir trotz meiner starken Kurzsichtigkeit eine tolle Kindheit zu ermöglichen. Dank der Initiative meiner Eltern war es möglich, dass ich mit 14 Jahren auf Kontaktlinsen wechseln konnte. Das hat für mich in der weiteren Entwicklung vieles vereinfacht. 

    War Ihnen als Jugendliche beziehungsweise junge Erwachsene bewusst oder bekannt, dass Ihre Myopie sich so drastisch verschlechtern kann und solche Folgen mit sich zieht?

    Nein, das hätte ich nie gedacht. Ich kann mich an eine Situation erinnern, als ich zwölf war. Ich habe mich bei einem meiner Augenarzttermine mit einer alten Dame unterhalten, die 19 Dioptrien hatte. Innerlich sagte ich mir, dass ich dort niemals hinkommen würde. Letztendlich lag ich zeitweise durch den grauen Star sogar darüber. Das hätte ich niemals vermutet. Dennoch hatte ich als Jugendliche immer so ein Bauchgefühl, dass das mit meinen Augen kein gutes Ende nimmt. Ich habe versucht, dieses innere ungewisse Gefühl zu verdrängen, und mich auch nicht weiter damit beschäftigt – bis Ende 30. 

    Was ist dann passiert?

    Ich bekam eine Einblutung im linken Auge. Als ich abends Nachrichten schaute, fehlte mir plötzlich ein Teil der Köpfe, ich hatte einen schwarzen Ring im Bild. Anfangs dachte ich, es liegt am Fernseher, doch als ich das linke und rechte Auge verglichen habe, wusste ich, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Mein erster Gedanke: Jetzt bewahrheitet sich das Gefühl meiner Jugend, der Haken ist gesetzt.

    Wie wurden Sie behandelt?

    Mit Injektionen in die Augen. Das war für mich mental sehr hart. Spritzen in die Augen zu bekommen, war mein persönliches Horrorszenario. Es kann ja auch einiges schiefgehen. Hier Vertrauen zu entwickeln, das zuzulassen, und die Angst vor den Injektionen in den Griff zu bekommen, hat lange gedauert.

    Wie kamen Sie zur Selbsthilfe und was bedeutet das für Sie?

    Während der Behandlungen traf ich immer nur auf alte Menschen, die durch AMD oder Diabetes auch eine Sehbehinderung hatten. Ich sagte mir immer, dass es doch nicht sein kann, dass ich die einzige recht junge Frau bin, die solche Probleme hat. Ich begann zu recherchieren und bin auf den Arbeitskreis pathologische Myopie der PRO RETINA e. V. gestoßen. Tipps zum Alltag mit einer Sehbehinderung und der Austausch mit anderen Betroffenen – auch in meinem Alter – haben mir sehr geholfen und helfen mir auch heute noch. Zu wissen, dass man nicht allein ist, ist ein gutes Gefühl. Alle Ansprechpartner der PRO RETINA sind geschulte selbst Betroffene und können daher bei den meisten Problematiken sehr gut unterstützen. Mittlerweile bietet PRO RETINA für Eltern sogar eine Präventionskampagne zur Verhinderung von Sehverlust durch die pathologische Myopie an.

    Wie sieht Ihr Alltag aus?

    Die Konsequenzen eines Lebens mit Sehbehinderung neben Kind, Haushalt und Arbeit sind oft sehr hart. Man muss versuchen, alles unter einen Hut zu bekommen – Arzttermine, die persönlichen Anstrengungen in beruflicher Hinsicht sowie die fehlende Absicherung, vor allem auch finanziell. Ich habe das Glück, dass meine Familie mir, so gut es geht, hilft, und auch die Pro Retina ist eine starke und auch eine der wenigen Unterstützungen, die man unabhängig zur Verfügung hat. 

    Wie ist Ihre persönliche Perspektive im Krankheitsverlauf? Haben Sie Angst zu erblinden?

    Durch die pathologische Myopie habe ich auch eine Autoimmunerkrankung in den Augen entwickelt. Bei dieser bilden sich blinde Flecken auf der Netzhaut. Ich hoffe, dass mir immer ein Restsehen bleibt, damit ich mich orientieren kann und nicht komplett auf die Hilfe von anderen angewiesen bin – der Verlust der Selbstständigkeit ist für mich heute noch undenkbar. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt, doch ich versuche, mich mit meiner Erkrankung zu arrangieren, und genieße jeden Tag des Sehens. 

    Sie haben eine neunjährige Tochter. Wie geht sie mit Ihrer Krankheit um?

    Sie sagte neulich: „Eine Mutter mit Sehbehinderung zu haben, ist sehr anstrengend.“ Das kann ich auch verstehen. Es dreht sich sehr viel um meine Augen. Wenn ich eine Einblutung bekomme oder merke, dass etwas nicht stimmt, wird die ganze Tagesplanung über Bord geworfen. Wenn ich Injektionen bekomme, bin ich auch sehr angespannt und brauche nach dem Eingriff meine Ruhe. Das muss sie dann auch akzeptieren. Es ist nicht leicht für sie. Aber sie hilft auch, beispielsweise bei Spaziergängen in der Dämmerung, wenn die Mama nicht mehr so gut sieht. Das ist für sie selbstverständlich. 

    Leidet Ihre Tochter auch an Kurzsichtigkeit? Wie wird sie überwacht?

    Einmal im Jahr gehen wir zum Augenarzt und lassen alles untersuchen. Kurzsichtigkeit kann vererbbar sein, doch bisher hat sie keinerlei Probleme mit den Augen. Dafür bin ich unendlich dankbar.

    Sie möchten mehr erfahren?

    Weitere Informationen finden Sie unter www.pro-retina.de

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