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    Wie schafft sie das bloß?

    Fotos: Privat

    Jennifer Malcherek ist Mama mit jeder Faser ihres Herzens. Lio heißt der süße Junge. Er ist gerade zwei Jahre alt geworden und hält seine Mama ganz schön auf Trab. Wie anstrengend das sein kann, wissen viele junge Mütter. Aber die Geschichte von Jennifer Malcherek ist eine besondere: Sie hat Retinitis pigmentosa. Das ist eine Sehbehinderung, bei der man von seiner Umwelt ungefähr so viel sieht, als würde man durch ein Schlüsselloch gucken. Ein Normalsichtiger hat ein Blickfeld von 180 Grad, bei der 30-Jährigen sind es gerade noch fünf Grad. Das ist wenig, verdammt wenig. Ein vermaledeiter Zufall war es, dass bei Jennifer die Augenerkrankung durchbrach. Retinitis pigmentosa ist eine Genkrankheit. Bei Jennifer Malcherek tragen beide Elternteile sie in ihrem Erbgut – ohne selbst erkrankt zu sein. Beide haben sie an Jennifer vererbt; ihre Augen erkrankten.


    „Sehr geholfen hat das Miteinander mit anderen Betroffenen, die ich in der Selbsthilfegruppe von PRO RETINA kennenlernte.“

    – Jennifer Malcherek, sehbehindert und täglich mit ihrem kleinen Sohn auf Achse

    Wie alles begann?

    Sonnenlicht hat sie schon früh stark geblendet, und in der Nacht konnte sie früh schlecht sehen. „Ich habe Gläser umgeworfen bei Tisch“, erzählt die Hamburgerin, „fünfmal hintereinander.“ Beim Autofahren sei sie unsicher gewesen; verursachte sogar wegen ihrer eingeschränkten Sicht zwei Unfälle. „Ich war mehrmals beim Augen-arzt“, erzählt sie. „Doch der hat immer gesagt, dass die Sehschärfe okay sei“, erinnert sich Jennifer. „Er hätte das Gesichtsfeld kontrollieren müssen“, weiß sie heute. Die Freundin ihres Bruders hat sie schließlich zu einem anderen Augenarzt gelotst. „Die Freundin lernte bei einem Augenarzt und sah, was mir ständig passierte“, so Jennifer Malcherek.

    Als die junge Frau die Diagnose bekam, war sie schwanger. Im dritten Monat.

    Die Freude über das noch ungeborene Kind war riesig. Das Hochgefühl trug sie durch die Schwangerschaft. „Als der Kleine dann da war, hat mich der Alltag eingeholt.“ Alles, alles, alles ist beschwerlich. „Ich muss mich immer konzentrieren, immer aufpassen.“ Es kann passieren, dass sie mit dem Kinderwagen versehentlich gegen Poller fährt, die Wege begrenzen. „Doch der Kleine soll ja auch raus an die frische Luft kommen“, sagt sie. Einkaufen mit einem Kleinkind ist der pure Stress. Davon können auch normal sehende Mütter ein Lied singen. Doch für Jennifer Malcherek ist alles noch schwieriger: „Habe ich alles aufs Band geräumt? Habe ich danach alles wieder in meinen Einkaufswagen gepackt? Hoffentlich bleibt das Kind ruhig.“ Und wenn wieder einmal ein Missgeschick passiert, auch das: „Was mögen nur die anderen denken?“

    Foto: Privat

    Auf dem Spielplatz macht sich der kleine Lio gerne selbstständig.

    Spielt hier, will dahin klettern, läuft zu anderen Kindern. Jennifer ist ständig auf „hab acht“. „Ich kann mich kein Stück ablenken lassen. Im Gespräch mit anderen kann ich mich anderen nicht zuwenden. Ich kann die anderen Mütter nicht ansehen.“ Möglicherweise wirke das auf die anderen arrogant, bedauert sie. Doch im Allgemeinen sei das Verständnis sehr groß, wenn sie ihre Beeinträchtigung darlege. Jennifer trägt auch einen Sehbehinderten-Button an der Kleidung, das sind drei schwarze Punkte auf gelben Grund, das helfe ihr.

    Wenn sie ohne Kind unterwegs ist, nimmt sie ihren weißen Langstock zur Hand. Aber auch das gibt es: „Manchmal fühle ich mich beobachtet von anderen Müttern. Ein unausgesprochenes ,Wie schafft die das bloß?‘ liegt dann in der Luft. Aber die Leute meinen es ja nicht böse“, sagt die Mutter.

    Seit Anfang August ist Jennifer zurück aus der Elternzeit und wieder in ihrem Beruf tätig. Sie ist gelernte Kauffrau für Dialogmarketing und arbeitet in der Mahnabteilung einer Bank. „Mein Arbeitgeber ist sehr kulant und hat mir einen Homeoffice-Arbeitsplatz eingerichtet“, freut sie sich.

    „Jetzt aber Butter bei die Fische“, sagt die Hamburgerin.

    „Es klingt alles gut – aber es ist nicht einfach.“ Der Augenarzt lobt sie gerne beschwichtigend: „Sie kommen doch super zurecht!“ Doch das wird ihr nicht gerecht. Es gibt auch Angst und trübe Tage. „An schlechten Tagen frage ich mich, warum ich es so schwerhabe“. Sehr geholfen hat ihr das Miteinander mit anderen Betroffenen, die sie in der Selbsthilfegruppe von PRO RETINA kennenlernte. Das sind Gespräche auf Augenhöhe. „Betroffene wissen, wovon sie sprechen. Ihre Tipps sind authentisch, sie sind hilfreich.“ Und ganz besonders dankbar ist sie ihrer Familie: „Ich bekomme so viel Unterstützung von meinem Mann, meinen Eltern und meiner Tante, das ist im Alltag eine große Hilfe und bedeutet mir sehr viel.“

    Wenn Lio alt genug ist, wird die Familie auch ihn durchchecken lassen. Zum Glück ist die Wahrscheinlichkeit jedoch gering, dass der Junge den Gendefekt geerbt hat, aber „es ist natürlich wichtig, die Augen untersuchen zu lassen, wenn Erkrankungen in der Familie vorliegen“, so Jennifer.

    Auf die Frage, was Jennifer sich von der Zukunft erhofft, antwortet die starke Frau zuversichtlich, aber auch demütig. „Ich hoffe, dass die Krankheit langsam voranschreitet und ich noch ganz viele Jahre mit meiner Familie genießen kann, und natürlich, dass die Forschung weiter vorankommt.“

    Information

    Der Selbsthilfeverein PRO RETINA Deutschland e. V. ist mit bundesweit mehr als 6.500 Mitglieder in rund 60 Regionalgruppen die größte und älteste Patientenvereinigung von und für Menschen mit Netzhauterkrankungen und deren Angehörige. PRO RETINA unterstützt Betroffene und ihre Angehörigen nach dem Leitsatz „Krankheit bewältigen, selbstbestimmt leben“, fungiert als Bindeglied zwischen Patient und Arzt und unterstützt die Forschungsförderung, damit neue Therapien entwickelt werden.

    Weitere Informationen finden Sie unter: www.pro-retina.de

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