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Kopf und Psyche

„ZU ERFAHREN, DASS MAN NIE WIEDER GESUND WIRD, SETZT DIE PSYCHE ENORM UNTER DRUCK.“

Fotos: Scholling Fotografie

Kevin war gerade einmal 24 Jahre alt, als er die Diagnose Multiple Sklerose (MS) erhielt. Wie er damit umgegangen ist und wie es zur Gründung eines Treffens von Betroffenen für Betroffene kam, erzählt er im Interview.

Anfangs habe ich versucht, alles mit mir selbst auszumachen. … wenn man nicht selbst betroffen, nicht selbst chronisch krank ist, kann man diese Gedanken und Gefühle einfach nicht nachvollziehen.

Kevin
@kevin_kaempferherz
Welche Symptome der MS haben deinen Alltag anfangs am meisten beeinträchtigt?

Mein erstes Symptom war eine plötzliche, immer wiederkehrende Lähmung der rechten Körperhälfte, die aber nach einer Woche auch wieder weg war. Anfangs habe ich mir deshalb auch keine Sorgen gemacht, weil ich dachte, ich hätte mir einen Nerv eingeklemmt. Konkreter wurde es erst, als ich eine Sehnerventzündung bekam, die dazu führte, dass ich auf dem rechten Auge immer weniger sehen konnte. Hier setzte bei mir die Panik ein und ich hatte Angst zu erblinden. Diese körperlichen Symptome haben mir Angst gemacht, weil ich immer dachte: „Was kommt als Nächstes?“ Das hat mich psychisch sehr belastet.

Wie wurde schlussendlich die Diagnose MS gestellt?

Schon direkt nachdem ich die rechtsseitige Lähmung hatte, wurde bei MRT gemacht, um ein Aneurysma auszuschließen. Die Lähmung kam beim Sport, daher war diese Möglichkeit durchaus plausibel. Mein Neurologe hatte aber nach dem MRT keine richtige Diagnose stellen können, weswegen ich mir auch keine Gedanken machte. Erst nach der Sehnerventzündung und einem erneuten Besuch beim Neurologen wurde ich an eine neurologische Fachklinik überwiesen, die bei der dortigen Untersuchung mehrere Entzündungsherde fanden. Eine Lumbalpunktion, bei der die Entzündungswerte im Blut überprüft werden, hat dann Gewissheit gebracht und die Diagnose Multiple Sklerose bestätigt.

Welche Rolle spielen deiner Meinung nach psychische Stärke und mentale Gesundheit beim Umgang mit MS?

Ich finde, dieser Punkt wird gerade am Anfang sehr unterschätzt. Zu erfahren, dass man nie wieder gesund wird und sein Leben lang auf Medikamente angewiesen ist, setzt die Psyche enorm unter Druck.

Da eine MS auch sehr unterschiedlich verlaufen kann, hat man natürlich auch viele Ängste: Kann ich irgendwann nicht mehr sehen? Kann ich irgendwann meine Blase nicht mehr leeren, werde ich komplett an den Rollstuhl gebunden sein? Man weiß nie, wann die Symptome kommen und welches Körperteil als nächstes betroffen sein wird. Es fühlt sich an, als würde dir jemand sagen, dass er dich irgendwann umbringt, aber nicht wann. Mit diesen Ängsten zu leben, ist zermürbend und hat mich die ersten zwei Jahre nach der Diagnose in eine depressive Phase gebracht.

Erzähl uns mehr zum Kämpferherzen Treffen, was hat dich dazu motiviert, es ins Leben zu rufen?

Anfangs habe ich versucht, alles mit mir selbst auszumachen. Mein Umfeld meinte es auch gut mit mir und hat mir Mut zugesprochen, aber wenn man nicht selbst betroffen, nicht selbst chronisch krank ist, kann man diese Gedanken und Gefühle einfach nicht nachvollziehen. Als ich die gut gemeinten Ratschläge nicht mehr hören konnte, habe ich in einem YouTube-Video all meine Ängste und Sorgen von der Seele gesprochen – nur für mich. So habe ich das erste Mal Nachrichten von anderen Betroffenen bekommen, die mich verstanden und mich kennenlernen wollten, das hat mir enorm weitergeholfen und mich aus meiner Depression geholt. Als ich via Instagram vorgeschlagen habe, dass man sich in Kassel treffen und austauschen könnte, wollten über 200 Leute teilnehmen. Daraus entstand dann das Kämpferherzen-Treffen, das von Betroffenen für Betroffene organisiert und durch Zugang zu Informationsmöglichkeiten und Vorträgen abgerundet wird. 2025 kamen bereits 2.600 Besucherinnen und Besucher nach Kassel.

Was würdest du dir für die Zukunft in Bezug auf Forschung, Versorgung oder gesellschaftliche Unterstützung für MS-Betroffene wünschen?

Was ich sehr gut finde, ist, dass Patienten immer häufiger von der Forschung eingebunden werden. Es wird mehr mit anstatt über Patienten kommuniziert. Wenn man das weiter ausbauen könnte, würde mich das sehr freuen. Außerdem ist es mir wichtig, dass Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen nicht als komplett arbeitsunfähig gesehen werden. Wenn man also eine Bewerbung erhält, aus der hervorgeht, dass der Bewerber eine Erkrankung hat, sollte dieser trotzdem eine faire Chance bekommen, um weiterhin Teil der Gesellschaft bleiben zu können.

Weitere Informationen finden Sie unter:

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