In jüngster Zeit schauen sich Wissenschaftler und Ärzte bei Verdauungsbeschwerden besonders die Darmbarriere ganz genau an. Wie bedeutend dieser „innere Schutzwall“ ist, das hat nun auch eine aktuelle repräsentative Online-Umfrage[1] unter 201 Allgemeinmedizinern und 50 Gastroenterologen gezeigt: Für 86 Prozent der Ärzte gilt eine gestörte Darmbarriere heute als „wichtiger Faktor“ bei der Entstehung und Therapie von Darmerkrankungen – vorwiegend bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen, Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Reizdarm. Zu diesem neuen „Fokusthema“ sprachen wir mit Dr. med. Nicole Steenfatt, Leiterin der ganzheitlichen DarmGesundheitspraxis, Bad Oeynhausen.
Dr. Nicole Steenfatt
Leiterin der ganzheitlichen DarmGesundheitspraxis, Bad Oeynhausen
Frau Dr. Steenfatt, was genau ist die Darmbarriere?
Die Dambarriere trennt de facto die Außenwelt von unserer Körperinnenwelt. Sie besteht aus der Darmschleimhaut, der Mukusschicht, also einer dicken zähen Schleimschicht sowie der Mikrobiota, den Bakterien, früher auch Darmflora genannt. Diese Multischutzschicht ist sozusagen der kritische Türsteher, der für eine „regulierte Einlasskontrolle“ lebenswichtiger Stoffe in den Körper sorgt. Die Dambarriere ermöglicht unserem Organismus also die gezielte Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit aus dem Darminhalt. Sie muss aber auch das Eindringen von gefährlichen Krankheitserregern sowie Gift- und Schadstoffen verhindern.
Warum ist eine stabile, also undurchlässige Darmbarriere so wichtig?
Ist die Darmbarriere durchlässig, können die vorgenannten unerwünschten gefährlichen Schadstoffe oder Mikroorganismen aus dem Darm den Körper und das Blut „erobern“ – und dort vielfältige Beschwerden verursachen. Dieser Vorgang wird mit zahlreichen, oft chronischen, also langanhaltenden Erkrankungen in Verbindung gebracht. Daher gilt: Einen gesunden Darm und damit einen gesunden Körper gibt es nur mit stabiler Darmbarriere. Dementsprechend rückt das so genannte „Leaky Gut“ – frei übersetzt „undichter Darm“ – immer stärker in den Fokus der Forschung. Übrigens auch in Deutschland.
Das ist interessant, wer erforscht hierzulande die Darmbarriere?
Zahlreiche internationale und deutsche Wissenschaftler erforschen die Darmbarriere immer intensiver, um mehr Klarheit und Struktur in Diagnose und Therapie des „Leaky Gut“ zu bringen. So wird beispielsweise an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg aktuell erforscht, welche Rolle die Dambarriere bei neuen Therapieansätzen für chronisch-entzündliche Darmerkrankungen spielt. Des Weiteren stehen Untersuchungen zur Darmbarriere im Mittelpunkt eines aktuellen Forschungsvorhabens der Deutschen Sporthochschule Köln und der Leibniz Universität Hannover – dieses wissenschaftliche Projekt wird sogar vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie mit 278.000 Euro gefördert.
Bei welchen Patienten mit welchen Symptomen prüfen Sie die Darmbarriere?
Wenn bei meinen Patienten Durchfälle, Blähungen, Krämpfe und/oder Schmerzen dauerhaft bestehen bleiben, dann untersuche ich, ob eine chronische Darmerkrankung wie beispielsweise Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Mikroskopische Kolitis oder ein Reizdarm vorliegt. Bei diesen, leider bis heute unheilbaren Erkrankungen, gilt eine gestörte Darmbarriere inzwischen als wichtiger Faktor, der zu Fehlfunktionen führt – das können beispielsweise Entzündungen und Bewegungsstörungen sein, die zu vorgenannten Beschwerden führen. Dementsprechend prüfe ich bei besonders bei Patienten mit diesen Erkrankungen die Stabilität der Darmbarriere – aber auch bei anderen Krankheitsbildern wie Nahrungsmittelunverträglichkeiten.
Welche Therapien stabilisieren die Darmbarriere, also machen den inneren Schutzwall wieder „sicher“?
Ich setze in erste Linie Arzneimittel ein, deren Wirkung auf die Darmbarriere nicht nur wissenschaftlich bestätigt wurde, sondern die auch direkt gegen häufig vorkommende Beschwerden wie Blähungen, Krämpfe und Durchfälle wirken. In der Medizin nennen wir das „Multi-Target-Wirkung“. Hier sind besonders pflanzliche Kombinationsarzneimittel, die beispielweise Myrrhe enthalten, eine bewährte Option, die wir inzwischen oft zur Behandlung einer Darmbarrierestörung verwenden. Hierbei überzeugen unter anderem Untersuchungen an der Charité Berlin[2], die zeigen, dass Myrrhe die Darmbarriere stabilisiert und sie vor schädlichen Einflüssen schützen kann. Darüber hinaus fanden auch Forscher an der Universität Leipzig heraus[3], dass die Arzneipflanze Myrrhe – sowohl einzeln als auch in Kombination mit anderen Arzneipflanzen – die Darmbarriere vergleichbar gut stabilisiert wie das häufig verordnete Kortisonpräparat Budesonid.
Und wie sieht es hier mit der Probiotika-Einnahme aus?
Probiotika enthalten lebensfähige Mikroorganismen, wie zum Beispiel Milchsäurebakterien und Hefen. Ihr Einsatz kann dazu beitragen, die erste Schutzschicht der Darmbarriere – das Darm-Mikrobiom – positiv zu beeinflussen. Aber: Aktuelle Studien zeigen auch, dass sich Probiotika, also diese Bakterien zum Schlucken in Pillenform, nur dann optimal ansiedeln können, wenn die Darmbarriere stabil und gesund ist. Das sollte also vor der Einnahme gesichert sein.
[1] Repräsentative Online-Umfrage bei 201API und 50 Gastroenterologen, DocCheck Insights, Juni/Juli 2021
[2] Rosenthal R. et al. Myrrh exerts barrier-stabilising and-protective effects in HT-29/B6 and Caco-2 intestinal epithelial cells. Int J Colorectal Dis. 32(5): 623-634 (2017)
[3] Weber L. et al. Anti-Inflammatory and Barrier Stabilising Effects of Myrrh, Coffee Charcoal and Chamomile Flower Extract in a Co-Culture Cell Model of the Intestinal Mucosa. Biomolecules 10, 1033 (2020)