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    “Ich wünsche mir mehr Verständnis statt Bewertungen.”

    Foto: Lenny Rothenberger

    Angelina Boerger (33) ist Journalistin und Autorin – und bekam mit 29 Jahren die Diagnose ADHS. Seither setzt sie sich leidenschaftlich dafür ein, dass ADHS besser verstanden wird. Sie klärt auf, räumt mit Vorurteilen auf und macht sich stark für eine Gesellschaft, in der neurodivergente Menschen nicht anecken, sondern dazugehören.

    Angelina, deine ADHS-Diagnose war ja eher ein Zufall. Kannst du uns mehr dazu erzählen?

    Bis kurz vor meinem 28. Geburtstag hatte ADHS in meinem Leben keinerlei Bedeutung. Ich bin ganz zufällig damit in Berührung gekommen. Ich saß mit 28 in einem Fernsehstudio im Publikum und zu Gast war eine junge Frau, die von ihrer späten ADHS-Diagnose erzählte. Schon nach wenigen Sätzen hatte ich das Gefühl, dass das ein wichtiger Moment in meinem Leben sein wird, der alles verändert: Woher kannte diese fremde Person mein Leben? Woher wusste sie, wie ich ticke, was meine alltäglichen Hürden sind? Schon am selben Abend habe ich mich in die Recherche gestützt, weil mich das Thema nicht mehr losgelassen hat. Bis zu meiner tatsächlichen Diagnose hat es dann allerdings noch fast ein Jahr gedauert, da ich nicht die einzige auf der Suche nach Antworten war. Die Wartezeiten für eine ADHS-Diagnostik, vor allem im Erwachsenenalter, sind enorm hoch und es gibt leider viel zu wenig Expert*innen für das Thema.

    Schaut man dann plötzlich mit anderem Blick auf sein Leben, besonders auch auf die Kindheit?

    Wenn ich an meine Kindheit und Jugend zurückdenke, dann war ADHS damals – in den 90ern – noch ein ziemliches Tabuthema. Es war stark stigmatisiert, vor allem im weiblichen Kontext, und ich möchte rückblickend niemandem einen Vorwurf machen, dass es bei mir lange nicht erkannt wurde. Im Gegenteil: Ich hatte das große Glück, in einem Umfeld aufzuwachsen, das mich in vielem einfach angenommen hat, wie ich bin. Ich habe mich geliebt und unterstützt gefühlt – bedingungslos. Das war ein riesiger Schutzfaktor. Dazu kam, dass ich von klein auf eine schnelle Auffassungsgabe hatte, laut Testungen überdurchschnittlich intelligent war und mich sprachlich gut ausdrücken konnte. Diese Kombination hat es mir ermöglicht, vieles zu kompensieren – zumindest nach außen. Ich konnte lange gut funktionieren, auch wenn es mich viel gekostet hat. Aber nicht alle Menschen mit ADHS haben so ein stabiles Umfeld. Viele erleben schon früh Ablehnung, ständige Kritik oder das Gefühl, nicht richtig zu sein – und das hinterlässt Spuren. Hinzu kommt: ADHS ist zu etwa 80 % genetisch bedingt. Das bedeutet auch, dass es gut sein kann, dass mindestens ein Elternteil ganz ähnlich „tickt“ – und dadurch wird das Verhalten des Kindes vielleicht seltener als abweichend gelabelt. Ich nenne das „familiäre Betriebsblindheit“.

    Ich habe früh gelernt, mich irgendwie durchzubeißen, manchmal auch durchzumogeln, und meine Verpeiltheit, Verträumtheit und motorische Unruhe weitestgehend zu kaschieren. Dabei helfen Strukturen wie Schule, Alltag, elterliche Unterstützung. Aber irgendwann, meist im Übergang zum Erwachsenenleben, fällt dieses Sicherheitsnetz Stück für Stück weg – und dann wird es anstrengend. So war es bei mir. Plötzlich war da nur noch ich – mit einem Alltag, der mir ständig entglitt, mit Aufgaben, die mich überwältigten, und mit diesem wachsenden Gefühl: Ich strenge mich doch so an, warum reicht das nie? Warum scheint das bei anderen alles so mühelos zu sein? Ich konnte performen, ja – aber der Preis war hoch. Denn was niemand sah: Wie viel Energie es mich kostete, halbwegs mitzuhalten. Diese dauerhafte Überforderung fordert irgendwann ihren Tribut – in Form von Erschöpfung, innerem Rückzug oder psychischen Begleiterkrankungen.

    Nicht alle Menschen ticken gleich. Und das ist keine Schwäche, sondern ein Ausdruck menschlicher Vielfalt.

    Angelina Boerger
    Journalistin und Bestseller-Autorin

    Was sind für dich im Alltag die größten Herausforderungen aufgrund von ADHS und was hilft dir, mit der „Kirmes im Kopf“ umzugehen?

    Es gibt Situationen, in denen mein Gehirn unglaublich fokussiert, konzentriert, pfiffig und oft schneller als alle anderen. Und dann gibt es die Situationen, in denen blockiert es total, quasi Arbeitsverweigerung, was auch damit zusammenhängt, dass bestimmte Botenstoffe, die wir z.B. brauchen um Informationen zu verarbeiten, zu planen, Risiken abzuschätzen, Impulsen nicht nachzugeben, oder etwas von Anfang bis Ende durchzuziehen, ohne die Motivation zu verlieren, bei ADHS anders verstoffwechselt werden. Da macht das Hirn quasi dicht, bis es Nachschub erhält. Das gilt vor allem für Aufgaben, die es sich nicht selbst ausgesucht hat, sondern die von außen kommen. Wie z.B. Hausaufgaben erledigen, den Müll rausbringen oder die Steuererklärung endlich fertig zu machen. Ich versuche vor allem stetig dazuzulernen, wie mein Gehirn funktioniert und was ich tun kann, um es zu unterstützen. Ich tausche mich viel mit anderen aus, lese Studien und Fachbücher, aber im Alltag hilft mir vor allem die offene Kommunikation, die leider nicht für jeden und jede einfach so möglich ist, weil Vorurteile und negative Konsequenzen damit verbunden sein können. Außerdem habe ich mir das Privileg erarbeitet, freiberuflich und selbständig zu arbeiten, was auch Herausforderungen birgt, da ich mich selbst strukturieren muss, aber auf der anderen Seite kann ich meine Energie frei einteilen. Und natürlich die klassischen Dinge, die jedem Menschen gut tun: Genügend Schlaf, ausgewogene Ernährung, regelmäßige Bewegung, frische Luft, Pausen, soziale Kontakte — ich denke gerade Menschen mit ADHS wissen ganz genau, was ihnen hilft, das Problem ist wie immer die Umsetzung.

    Manche Betroffene sagen, dass ADHS keine Krankheit ist, sondern eine Superpower. Wie siehst du das: Gibt es auch für dich Facetten deiner ADHS, die du positiv bewertest?

    Ich verstehe total, woher dieser „Superpower“-Gedanke kommt – gerade, wenn man jahrelang nur mit Defiziten konfrontiert wurde, kann es unglaublich stärkend sein, den Blick mal auf das zu richten, was einem ADHS auch ermöglicht. Und ja, es gibt definitiv Seiten an meiner ADHS, die ich als Ressource sehe. Zum Beispiel meine Kreativität – mein Kopf denkt in Assoziationen, in Bildern, in Ideenketten. Das macht mich im journalistischen oder kreativen Arbeiten oft schnell, originell und lösungsorientiert. Ich kann mich blitzschnell in neue Themen reindenken und liebe es, komplexe Dinge greifbar zu machen. Auch meine Intensität – im Fühlen, Denken, Wahrnehmen – hat etwas Kraftvolles. Ich gehe oft mit vollem Herzen in Dinge rein, bin begeistert, neugierig und emotional sehr verbunden. Aber: Ich sehe ADHS nicht als reine Superkraft. Das wäre für mich zu romantisierend – denn die Realität ist, dass ADHS auch schmerzhaft sein kann. Die Erschöpfung, das Chaos, die Selbstzweifel, Begleitdiagnosen wie Depressionen oder Angststörungen – all das gehört für viele von uns eben auch dazu. Ich glaube, ADHS ist weder bloß eine Krankheit noch bloß eine Superpower, sondern ein anderes Betriebssystem. Und je nachdem, wie gut die Umgebung zu diesem System passt – wie viel Verständnis, Struktur und Spielraum man bekommt – zeigt es sich mal als Stärke, mal als Belastung.

    Besonders erwachsene Frauen werden häufig erst sehr spät diagnostiziert. Woran liegt das und welche Gefahren kann eine verspätete Diagnose mit sich bringen?

    Tatsächlich hängt es stark damit zusammen, dass ADHS ganz unterschiedlich in Erscheinung treten kann – und auch damit, wie wir gesellschaftlich geprägt und erzogen werden. Es gibt bestimmte Eigenschaften, die eher Jungen zugeschrieben werden oder bei ihnen als „typisch“ und akzeptabel gelten. Bei Mädchen hingegen zeigt sich ADHS oft in Form von Unaufmerksamkeit und Tagträumerei – früher sprach man in solchen Fällen von „ADS“, also ADHS ohne Hyperaktivität. Heute weiß man allerdings, dass diese Trennung nicht korrekt ist. Die Hyperaktivität ist bei vielen Mädchen und Frauen nicht weg – sie ist einfach weniger offensichtlich. Statt sich körperlich auszutoben, spielt sich das Ganze eher im Inneren ab: ständiges Grübeln, Gedankensprünge, das Gefühl, nie wirklich da zu sein – all das sind typische Ausdrucksformen. Solche stilleren, zurückhaltenden Verhaltensweisen werden gesellschaftlich häufig als „mädchentypisch“ wahrgenommen und fallen deshalb seltener negativ auf. Hinzu kommt, dass viele Frauen dazu tendieren, Probleme eher nach innen zu richten – sie machen vieles mit sich selbst aus, ziehen sich zurück oder entwickeln Schuldgefühle. Männer hingegen neigen eher dazu, Frust nach außen zu tragen, zum Beispiel durch lautes Verhalten oder Konflikte. Deshalb versuchen viele Mädchen und Frauen, ihr Verhalten anzupassen – sie maskieren ihre Symptome, passen sich an und bemühen sich, nicht aufzufallen. Diese dauerhafte Selbstkontrolle hinterlässt Spuren. Sie kann das Selbstwertgefühl nachhaltig beeinträchtigen und psychisch belasten. Viele Frauen mit unerkanntem ADHS entwickeln im Laufe der Zeit begleitende Probleme wie Angststörungen, Zwänge, Suchterkrankungen, Depressionen oder Essstörungen. Das sind schwerwiegende Folgen – und trotzdem ist vielen Menschen der Zusammenhang mit ADHS gar nicht bewusst.

    Was wünschst du dir seitens der Gesellschaft, wenn es um den Umgang mit neurodivergenten Menschen wie z. B. ADHS-Betroffenen geht?

    Ich wünsche mir in erster Linie mehr Verständnis statt Bewertungen. Viele Menschen sehen nur das Verhalten – das Zuspätkommen, das Verpeiltsein, das Aufschieben, die Sprunghaftigkeit – und ziehen dann vorschnell Rückschlüsse: faul, unzuverlässig, unkonzentriert. Was sie nicht sehen, ist der immense innere Aufwand, der oft dahintersteckt. Die ständige Anstrengung, im Alltag mitzuhalten, sich zu organisieren, nicht aus dem Rahmen zu fallen. Ich wünsche mir auch mehr Offenheit für Vielfalt im Denken und Funktionieren. Nicht alle Menschen ticken gleich. Und das ist keine Schwäche, sondern ein Ausdruck menschlicher Vielfalt. Neurodivergente Menschen bringen oft außergewöhnliche Perspektiven, kreative Lösungen und ein hohes Maß an Empathie mit – wenn man ihnen den Raum gibt, so zu arbeiten und zu leben, wie es zu ihnen passt. Was wir brauchen, ist ein Umdenken in Schule, Arbeitswelt und Medizin: weg vom reinen Defizitblick, hin zu einem unterstützenden, flexibleren System, das Unterschiede nicht nur toleriert, sondern aktiv mitdenkt. Inklusion heißt eben nicht, dass alle gleich funktionieren sollen, sondern dass alle auf ihre Weise teilhaben dürfen. Und zuletzt wünsche ich mir mehr Sichtbarkeit – gerade von Erwachsenen mit ADHS, von Frauen, von queeren Menschen, von People of Color – denn viele von ihnen fliegen durch alle Raster, weil die alten Stereotype von „ADHS = zappeliges Schulkind“ nicht mehr greifen. Wenn wir anfangen, über diese Vielfalt zu sprechen, entsteht nicht nur mehr Gerechtigkeit, sondern auch mehr Menschlichkeit.

    BUCHTIPP
    “Kirmes im Kopf“

    In ihrem Buch bietet Angelina Boerger persönliche Einblicke in den Alltag von Menschen mit AD(H)S.



    www.kirmesimkopf.de

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