Kognitive Störungen sind Funktionseinschränkungen in bestimmten Teilbereichen der geistigen Leistungsfähigkeit. Speziell bei der MS sprechen wir von vier typischen Hirnleistungsveränderungen: verminderte kognitive Geschwindigkeit, Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis, Schwierigkeiten beim Multitasking und eine verminderte Aufmerksamkeitsleistung

Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Iris-Katharina Penner
Assoziierte Professorin für kognitive Neurologie und Neuropsychologie der Universität Bern, Leiterin Universitäre Neuropsychologie Inselspital (Universitätsspital Bern), eidgenössisch anerkannte Neuropsychologin (EAN)
Foto: Peter Weihs
Über Frau Prof. Penner
Als kognitive Neurowissenschaftlerin und Neuropsychologin verfügt Prof. Penner über langjährige Erfahrung in neurokognitiver und patientenzentrierter klinischer Forschung und klinisch-praktischer Tätigkeit. Sie legt bei Ihrer Arbeit ein besonderes Augenmerk auf die kreative Entwicklung von neuen methodologischen Verfahren zur Diagnostik und Therapie von neurodegenerativen und entzündlichen Erkrankungen des zentralen Nervensystems sowie auf die Umsetzung dieser Verfahren im klinischen Alltag.
Frau Prof. Penner, Multiple Sklerose ist eine neurologische Erkrankung, die verschiedenste Symptome hervorrufen kann. Für die Feststellung des Schweregrades einer MS werden aber akute neurologische Ausfälle (Schübe) und über die Zeit in erster Linie die Gehfähigkeit von Betroffenen herangezogen. Warum ist das Ihrer Meinung nach unzureichend?
Die Neurologie nutzt die sogenannte EDSS-Skala (Expanded Disability Status Scale), um Patienten bezüglich des Schweregrads der Erkrankung einzuteilen. Das ist nicht per se schlecht, da das dem Arzt Hinweise gibt, wie stark die Erkrankung ausgeprägt ist. Bei fortgeschrittenem Schweregrad wird aber nur noch die Gehfähigkeit abgebildet: d. h. wie weit kann der Patient noch laufen, benötigt er eine Gehhilfe, sitzt er bereits im Rollstuhl? Was der EDSS nicht hinreichend abbildet, sind unsichtbare Beschwerden wie z. B. kognitive Störungen, Fatigue, Depressionen oder Angststörungen. Diese Symptome belasten und beeinträchtigen Betroffene aber häufig mindestens genauso stark wie die verminderte Mobilität, ganz besonders, wenn es um Fragen der Produktivität und damit z. B. der Arbeitsfähigkeit geht. Wir brauchen also dringend zusätzliche Instrumente, um diese Beschwerden zu erfassen. Erst dann betrachten wir den Patienten ganzheitlich. Dafür mache ich mich schon seit mehr als 20 Jahren stark.
Wie können Patienten möglichst ganzheitlich betrachtet werden, um ihnen eine individuelle Behandlung zu ermöglichen, die auch diese eben von Ihnen genannten Symptome mitdenkt?
Es steht und fällt alles mit dem guten, vertrauensvollen Patienten-Arzt-Gespräch. Ein Arzt sollte sich für diese Aspekte der Krankheit genauso interessieren wie für die rein neurologischen Symptome. Leider geht das aber häufig unter. Daher sage ich Patienten, dass sie genau das auch einfordern sollen. Sie müssen diese Beschwerden thematisieren und vehement darauf bestehen, dass diese berücksichtigt werden. Denn selbst, wenn der behandelnde Neurologe sich damit nicht auskennt, kann er seine Patienten an die Neuropsychologie überweisen.
Können sie uns etwas genauer erzählen, was man unter kognitiven Beeinträchtigungen versteht und wie diese sich bei MS äußern können? Wie werden diese gemessen?
Kognitive Störungen sind Funktionseinschränkungen in bestimmten Teilbereichen der geistigen Leistungsfähigkeit. Speziell bei der MS sprechen wir von vier typischen Hirnleistungsveränderungen: An erster Stelle ist es die kognitive Geschwindigkeit, die einbricht und die sogenannte „red flag“ darstellt, weil sie bei fast jedem/r Betroffenen vorkommt. Das erklärt sich aus dem Krankheitsgeschehen: die Myelinscheiden, die die Nervenfasern umhüllen und bei MS Schaden nehmen, sind für die schnelle Erregungsübertragung zuständig. Je stärker sie geschädigt sind, umso langsamer wird der Patient auch geistig. Das heißt nicht, dass die Qualität der geistigen Leistung leidet; der MS-Patient braucht für diese Leistung aber mehr Zeit. Das ist z. B. im Berufsleben sehr wichtig, denn mit diesem Wissen könnte man schon einkalkulieren, dass ein Mitarbeiter mit MS mehr Zeit benötigt, um gewisse Aufgaben zu erledigen. Auch Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis können auftreten, die visuell-räumlicher und verbaler Natur sein können. Die dritte Störung betrifft das Multitasking: viele MS-Betroffene berichten, dass es ihnen zunehmend schwerer fällt, mehrere Dinge parallel zu erledigen. Sie müssen Aufgaben also nacheinander angehen. Die vierte Funktionalität, die betroffen sein kann, ist eine verminderte Aufmerksamkeitsleistung. Das sind die MS-typischen kognitiven Veränderungen, die die Lebensqualität Betroffener erheblich beeinträchtigen.
Mit dem Symbol Digit Modalities Test (SDMT) kann der behandelnde Arzt oder Psychologe Veränderungen in der Verarbeitungsgeschwindigkeit (rote Flagge) zuverlässig in ihrem Ausmaß bestimmen. Dieser Test ist in der klinischen Routine sehr gut anwendbar und dauert nur 90 Sekunden. Das Ergebnis des SDMT gibt sehr guten Aufschluss darüber, ob der Patient in der kognitiven Geschwindigkeit eingeschränkt ist. Der Test kann sehr gut bei den Jahreskontrollen durchgeführt werden, da man so auch beobachten kann, ob sich die Leistung verschlechtert.
Warum ist es entscheidend, kognitive Beeinträchtigungen grundsätzlich bei Erstdiagnose und im Krankheitsverlauf im Rahmen der MS-Behandlung mit zu berücksichtigen?
Die kognitiven Störungen gehören meist schon zu den ersten Symptomen, das ist den meisten nur leider nicht bekannt. Es ist also ungemein wichtig, die kognitiven Fähigkeiten direkt bei der Erstdiagnose zu überprüfen, um ein ganzheitliches Bild des Erkrankungsgrades zu ermitteln und auch die kognitiven Leistungen bei Folgeuntersuchungen stets zu überprüfen. Ganz wichtig ist: Sind Betroffene bereits bei Erstdiagnose kognitiv auffällig, dann kann man davon schon ableiten, wie aggressiv das Krankheitsgeschehen sein wird, will heißen, die Kognition ist ein Indikator für die Progredienz. Das kann die Entscheidung, welche Therapie der Patient bekommt, durchaus mit beeinflussen. Wenn sich die kognitive Leistung im Krankheitsverlauf verschlechtert, kann das wiederum auch ein Hinweis auf ein beschleunigtes Fortschreiten der Erkrankung sein. In diesem Fall kann es sinnvoll sein, die Therapie zu überdenken und ggf. anzupassen.
Muss man die Kognition isoliert betrachten, oder korreliert sie mit anderen Befunden?
Die unsichtbaren Symptome der MS sind stark miteinander verwoben und können sich gegenseitig bedingen. Depressionen und Angststörungen liegen bei etwa 35 bis 50 Prozent der Betroffenen vor. An Fatigue leiden bis zu 90 Prozent. Von kognitiven Störungen sind etwa 50 Prozent betroffen. Diese sind überlappend, und die Herausforderung für den Arzt oder Neuropsychologen ist festzustellen, welches dieser Symptome der Treiber ist, der die anderen bedingt und beeinflusst. Das erfordert viel Erfahrung und einen intensiven Austausch zwischen Behandler und Patient.
Gibt es Möglichkeiten, die kognitiven Fähigkeiten von MS-Patienten zu schulen und bereits vorhandene Einschränkungen zu therapieren und ggfs. sogar zu verbessern?
Sehr hilfreich kann eine kognitive Verhaltenstherapie sein, indem man mit dem Patienten zum einen an der Akzeptanz arbeitet, die kognitiven Störungen auch als Teil der Krankheit zu sehen und anzunehmen, aber auch Strategien erarbeitet, zum besseren Umgang mit den Problemen im Alltag. Zudem spielen Ausdauersport und achtsamkeitsbasierte Meditation eine große Rolle. Das alles trägt dazu bei, die kognitive Reserve wieder zu füllen und den Patienten zu mehr Lebensqualität zu verhelfen.
Es gibt einige MS-Therapien, die direkt im Zentralen Nervensystem (ZNS) wirken. Gibt es einen Zusammenhang zwischen ZNS-Wirkung und Einfluss auf kognitive Defizite?
Generell gibt es zur Wirkung von Immuntherapien auf die Kognition keine sogenannte Klasse I Evidenz, da in den Zulassungsstudien die Kognition nie als primärer Endpunkt genutzt wurde. Wir können aber feststellen, dass es einen positiven Sekundäreffekt gibt. Denn wenn eine Immuntherapie in der Lage ist, das Gehirn zu schützen und seine Struktur und Funktion länger zu erhalten, dann ist das in der Folge auch positiv für die Kognition.
Welchen Appell würden Sie an Patienten und auch behandelnde Ärzte richten, um die Betrachtung der kognitiven Fähigkeiten bei der Diagnose und Behandlung noch mehr in den Fokus zu stellen?
Der Appell an die behandelnden Kollegen lautet, Patienten konkret auf mögliche kognitive Veränderungen anzusprechen und daraus eine Konsequenz abzuleiten, z. B. das Überweisen an die Experten (Neuropsychologen). Diese Beschwerden müssen unbedingt genauso ernst genommen werden wie die physischen Symptome. Patienten möchte ich ermutigen, diese Abklärung kognitiver Schwierigkeiten vehement beim behandelnden Arzt einzufordern. Denn nur so kann der Arzt feststellen, was der Patient wirklich benötigt und wie eine ganzheitliche Behandlung aussehen kann, die alle Facetten der Erkrankung berücksichtigt.
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