Die Neurologie ist Innovationstreiber der Medizin. Mit den neuen Behandlungsmöglichkeiten und den steigenden Bedarfen aufgrund der demografischen Entwicklung stellt dies aber gleichzeitig eine bisher weit unterschätzte Herausforderung für die Gesellschaft dar. Dank eines langen Gespräches mit Dr. Uwe Meier, Vorstand Berufsverband der Neurologen, können wir Sie nachfolgend mit aktuellen Informationen versorgen.
Dr. Uwe Meier
Vorstand Berufsverband der Neurologen
Die Neurologie gilt als Schlüsselmedizin dieses Jahrhunderts. Keine andere medizinische Disziplin entwickelt sich so schnell. Sie ist Innovationstreiber und beflügelt dank ihrer Fortschritte die Medizin. Häufig wie nie zuvor legen Absolventen ihre Facharztprüfung in der Neurologie ab.
Erfolgreiche Therapien in der Neurologie
Dank der Fortschritte in der Neurologie lassen sich nämlich bisher unheilbare und chronische Krankheiten erfolgreich therapieren. Darunter sind altersbedingte Volkskrankheiten wie etwa Schlaganfall, Parkinson oder Alzheimer, aber auch entzündliche Krankheiten wie die MS, die schon in jungen Jahren zu schweren und komplexen Behinderungen führen kann. Dies wäre vor 20 bis 30 Jahren so nicht vorstellbar gewesen. „Früher konnten Ärzte in der Neurologie in erster Linie diagnostizieren“, sagt Dr. Uwe Meier, Vorsitzender vom Berufsverband Deutscher Neurologen und Präsident vom Spitzenverband ZNS. „Das hat sich radikal geändert. Die Neurologie hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem therapeutischen Fach entwickelt.“
Der Bedarf an neurologischer Versorgung in der Bevölkerung nimmt damit rasant zu. Dies betrifft alle Bevölkerungsgruppen über alle Lebensalter hinweg: „Das Nervensystem einschließlich Gehirn und Rückenmark ist das empfindlichste, komplexeste und kostbarste Organ, das wir im Körper haben“, sagt Meier. „Mit ihm werden praktisch alle körperlichen, psychischen und seelischen Vorgänge reguliert. Seine hoch spezialisierten Zellen lassen sich aber schlechter regenerieren. Ausfälle in diesem System haben daher oft dramatische Auswirkungen für die Patienten“, so Meier. „Moderne und hochpräzise Therapien können hier helfen, sind aber oft auch ausgesprochen kostenintensiv und aufwendig.“
Alternde Gesellschaft, fehlende Betreuung
Aber es gibt nicht nur gute Nachrichten: Da die Gesellschaft immer älter wird, nehmen laut WHO zukünftig auch Alzheimer, Parkinson oder Schlaganfälle explosionsartig zu. Laut European Brain Council leiden in Europa 220,7 Millionen Menschen an einer neurologischen Erkrankung: Kopfschmerzen führen mit 152,8 Millionen Betroffenen die Häufigkeitsliste an, gefolgt von Schlafstörungen mit 44,9 Millionen Menschen, Schlaganfällen mit 8,2 Millionen Betroffenen und Demenzerkrankungen mit 6,3 Millionen Patienten. Hierzulande wird im Jahr 2050 laut den Zahlen des Statistischen Bundesamts jeder Dritte 65 Jahre oder älter sein. Das stellt insbesondere die Neurologie vor große Herausforderungen. Zwar ist die Zahl der Fachärzte von früher rund 1.500 auf heute circa 7.000 gestiegen. Aber sie reichen für die aktuell drei Millionen betroffenen Patienten nicht aus, schon gar nicht in den ländlichen Regionen.
„Schon heute haben die Neurologen mit den Psychiatern und Psychotherapeuten die längsten Wartezeiten“, so Meier. „Der medizinische Fortschritt und die demografische Entwicklung verschärfen die Bedarfssituation dramatisch. Das wird momentan komplett unterschätzt. Unsere Gesellschaft ist darauf nicht vorbereitet.“
Die Neurologie zeigt daher mit ihren Herausforderungen im Speziellen, was für die gesamte Medizin generell gilt: „Unser Gesundheitssystem ist historisch gewachsen und kann aktuellen Patientenbedarfen nicht mehr gerecht werden“, so Meier. „Wir erleben einerseits eine zunehmende Ökonomisierung der Medizin, die mehr den Interessen von Konzernen als den Patienteninteressen dient. Hinzu kommt, dass das System an überbordender Bürokratie, Richtlinien und Vorgaben fast erstickt. Echte patientenorientierte Veränderungen haben es schwer. Für grundlegende Reformen fehlt der Mut.“
Neue Lösungen gegen Versorgungslücken
Neue Lösungen, für den wachsenden Bedarf bei zu wenigen Fachkräften, können als erste Ansätze zum Beispiel Telemedizin, digitale Services in Betreuungsprogrammen oder innovative Versorgungsverträge sein, mit denen sich teilweise Effizienzreserven heben und Reibungsverluste vermeiden lassen. Dennoch fordert Meier: „Wir brauchen eine radikale Umstrukturierung des Gesundheitssystems. Versorgungsprogramme müssen besser strukturiert und Leistungen vernetzt sein. Wir brauchen weniger Krankenhäuser mit dafür deutlich mehr Spezialisierung. Der ambulante Versorgungsbereich muss befähigt werden, komplexere Leistungen erbringen zu können. Auch müssen wir gesellschaftlich diskutieren, was wir uns leisten wollen und können. Es braucht eine vernünftige Balance zwischen guter Medizin und Finanzierbarkeit. Vor allem müssen wir nicht nur darüber reden, dass es um die Belange der Patienten geht. Wir sollten uns an ihrem wirklichen Bedarf orientieren.“