Die Sexualtherapeutinnen Helen Hagemeier und Katja Stolte im Interview.
Helen Hagemeier
Katja Stolte
Liebe Helen, wie wichtig ist es für ein Individuum, psychisch wie auch physisch mit dem Thema Sexualität offen umgehen zu können?
Zuerst einmal einer meiner liebsten Sätze: „Wir sind alle heute hier wegen Sex.“ Und da dies der ausschlaggebende Faktor unseres Daseins ist, ist Sex an sich ja immer omnipräsent – denn ich als Person bin aus Sex entstanden, genauso wie Sie und alle Leser.
Wir gehen häufig davon aus, dass unsere Welt normativ heterosexuell ist, dies ist aber nicht der Fall. In unserer modernen sexuellen Gesellschaft sollte es weiterhin viel bewusster um Diversität gehen, damit die Gesellschaft inklusiver aufgestellt ist. Denn nur durch eine offene und anerkennende Haltung aller Menschen können Personen vor psychisch belastenden Situationen durch Ausschluss oder Abwertung der Gesellschaft geschützt werden.
Als Gesellschaft müssten wir viel offen für Themen wie Libidoverlust, sexuelle Identitätsstörungen und Schwangerschaftsdepressionen sein um diese zu einem alltäglichen Thema unserer Gesellschaft zu machen anstatt zu einem Tabu. Diese Themen betreffen uns alle und wir sollten diesen viel mehr Sichtbarkeit geben, um psychische Leiden deutlich zu verringern.
Katja, wie siehst du das?
Dem stimme ich absolut zu. Und bezüglich des Umgangs mit den physischen Aspekten möchte ich gern noch ein weiteres Tabu im Tabu ansprechen, nämlich Sexualität und Krankheit, sich trauen, es bei Ärzten anzusprechen. Denn obwohl es auf der einen Seite diese sexuelle Revolution gibt, existiert parallel eine große Sprachlosigkeit. Denn tatsächlich fällt das Sprechen über Sexualität den meisten Betroffenen sehr schwer und auch Therapeuten sowie Ärzten kommen ja selbst aus dieser Gesellschaft mit ihren Tabus. In der Konsequenz klammern sie Themen rund um die Sexualität in ihrer Behandlung meist aus. Dabei wäre es genau an dieser Stelle so wichtig, einen offeneren Umgang damit zu pflegen, um Patientinnen und Patienten den Leidensdruck zu nehmen und sie in ihrer Lebensqualität zu unterstützen. Denn es gibt so viele Menschen, die aufgrund von Erkrankungen Einschränkungen in ihrer Sexualität haben.
In der Sexualtherapie geht man davon aus, dass 50 Prozent der Menschen sexuelle Probleme haben. Wenn wir nun noch draufrechnen, dass Menschen mit Erkrankung oder Behinderung ein erhöhtes Risiko für eine sexuelle Störung aufgrund physischer oder psychischer Symptome haben, dann ergibt sich ein großer Bedarf. Doch kaum jemand spricht mit ihnen, da sich keiner zuständig fühlt oder den Mut aufbringt, sich der sexuellen Veränderungen und Herausforderungen, die mit einer Erkrankung oder Behinderung einhergehen können, anzunehmen. So die Erfahrung aus meinen Seminaren für Therapeuten.
Die psychischen Folgen von lebensverändernden Diagnosen oder medikamentösen Einflüssen – Minderwertigkeitsgefühle, Depressionen, Angst vor Partnerschaftsverlust – sind mitunter enorm und können zu Frustration und Vermeidung von Sex, im schlimmsten Fall zu Vereinsamung und Isolation oder Depression führen.
Um die Eingangsfrage zu beantworten: Hierfür ist es sehr wichtig – und da spreche ich aus der Perspektive der Therapeutin – einen offenen Umgang mit Sexualität zu pflegen – oder eben noch zu erlernen. Denn die wenigsten sind darin so souverän, da der Grundstein dafür früh in der Kindheit und im Heranwachsen gelegt wird – und da könnten wir jetzt erneut bei den Tabus anfangen.
Helen, kann man mit einer Bedürfnisanalyse für Klarheit sorgen?
Bei der Bedürfnisanalyse stellen wir uns erst einmal folgende Fragen: Welche Sexualität lebe ich im Jetzt? Welche Bedürfnisse werden befriedigt und welche bleiben unbefriedigt? Wo liegen meine sexuellen Bedürfnisse? Unsere Gesprächsthemen sind dann, welche Grundbedürfnisse bestehen, was Berührung oder was Intimität für sich selbst bedeutet, wie geteilte Sexualität sich erfüllend anfühlt und wie Solo-Sex umgesetzt wird. Dadurch erfahren wir mehr über die sexuelle Zufriedenheit, offene Wünsche, ausgesprochene und unausgesprochene Fantasien, aber auch über körperliche Energien, wie feminine und maskuline Energien, und schauen, wohin sich die Lust am stärksten entfaltet.
Daraufhin bauen wir einen Übungsplan auf, den die Einzelperson wie auch Paare zu Hause umsetzen können. Die Übungen sind sehr vielseitig und bei jedem Fall anders. Die Bedürfnisanalyse ist allerdings nicht nur für die sexuelle Zufriedenheit, sondern ebenso für viele Menschen ganz generell eine Möglichkeit, das riesige Spektrum der Sexualität weiter zu erforschen.
Ich arbeite auch gerne mit sexueller Hypnose und Trance, wodurch wir die Erregungsquellen und Blockaden erforschen. Denn erst wenn wir uns entspannen, können wir bewusst tiefer fühlen. Mit einer entspannten Haltung kann ich tiefer fühlen, was in meinem Körper passiert, und der Lust dadurch mehr Weite schenken.
Helen, was fällt dir bei deiner Arbeit als Sexualtherapeutin am ehesten an deinen Klienten auf? Hakt es an körperlicher Unsicherheit oder an der Kommunikation miteinander?
Erst mal haben wir weiterhin ein Systemproblem, denn es gibt immense Probleme, überhaupt an die Versorgung einer Sexualtherapeutin oder eines Sexualberaters zu kommen. Warum? Weil über uns zu wenig gesprochen oder an uns verwiesen wird. Meist sind Personen, die sich an mich wenden, bereits einen langen belastenden Weg gegangen. Und dadurch entsteht manchmal eine weitere psychische Belastung on Top zu dem eigentlichen Problem selbst.
In meiner Arbeit treffe ich vor allem auf Personen mit sexuellen Unsicherheiten bezogen auf die eigene sexuelle Identität, das Empfinden als sexuelles Wesen in dieser Gesellschaft. Wir Menschen sind so in unserem Leistungsdruck und dem Alltagsstress versunken, dass es uns an Kreativität und gelebter Sexualität fehlt. Der Körper ist immer nur am Ackern, d.h. wir sind so oft im Kopf und nicht im Körper über den Tag, dass unser System gar nicht genug fühlen kann. Wir Menschen müssen also erst mal wieder lernen zu fühlen. Und dies ist in meiner Praxis täglich Thema.
Katja, zu deinem Fachbereich gehört auch die Behandlung von psychisch-sexuellen Blockaden. Was verbirgt sich dahinter und wie können diese entstehen?
Eine sexuelle Blockade entsteht im Prinzip immer dann, wenn das Gedachte und Gefühlte nicht zum Erleben und Verhalten passt. Der Körper macht dann nicht mehr so mit, wie wir eigentlich scheinbar wollen. Denn auch das steht nicht selten zur Debatte: Habe ich überhaupt den Sex, den ich mir wünsche? Macht der Körper hier dicht oder spricht er einfach nur aus, was ich mich nicht auszudrücken traue?
Das Besondere im Fall von neurologischen Erkrankungen ist dann, dass diese per se eine Blockade auslösen können, meist erst auf körperlicher Ebene, und diese dann wiederum führen zu psychischen Blockaden.
Bei Menschen mit Behinderung herrscht leider überwiegend noch das Bild, dass diese ganz sicher keine sexuellen Bedürfnisse haben und eine Person, die krank ist, keine Lust auf Sex hat. Dabei ist kein Mensch jemals nur krank oder nur behindert. Wir werden als sexuelle Wesen geboren und verlassen die Welt als solche – nur müssen wir bei bestimmten physisch oder psychisch verändernden Erkrankungen Sexualität neu lernen.