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    Neurogene Blasenentleerungsstörung:
    „Ich lasse mir durch die Inkontinenz nicht den Spaß am Leben nehmen.“

    FOTO: Kaspars Grinvalds via shutterstock.com

    Stephan Bl. (58) macht in seinem Interview anderen Betroffenen Mut und spricht ganz unverblümt und mit Humor unangenehme Wahrheiten an, die zum Alltag mit einer Blasenentleerungsstörung mit Detrusor-Sphinkter-Dyssenergie gehören.

    Was war die erste Situation, in der Ihnen bewusst wurde, dass etwas nicht stimmt?

    Es war 1999 bei einem Vorbereitungskurs zu einer Fortbildung. Nach dem Wasserlassen während einer Pause hörte der Urin nicht mehr auf zu tröpfeln. Ich war gezwungen, mich in einer nahe gelegenen Apotheke mit Vorlagen bzw. Windeln zu versorgen. Nach zwei Tagen war der Spuk vorbei. 2017 trat das Phänomen wieder auf. Es dauerte aber sechs Monate, bis ich wieder ohne Windeln auskam. Die Situationen waren beide psychisch stark belastend. Vor zweieinhalb Jahren trat meine Inkontinenz wieder auf, nur massiver, und dauert bis heute an. Mal ist es nur ein stetes Tröpfeln, die meiste Zeit aber habe ich einen schwallartigen Urinverlust.

    Gab es denn eine direkte Diagnose beim Arzt?

    Die darauffolgenden Untersuchungen bei meiner Urologin verliefen ausgesprochen entspannt. Nach drei Monaten Behandlung überwies sie mich zur Urodynamik. Kurz vor dem Termin wurde mir dieser aufgrund der Corona-Verordnung abgesagt. Erst im Frühjahr 2022 kam es dann zur Untersuchung. Die Urologin erklärte mir alles und beantwortete meine Fragen verständlich. Die Diagnose stand: neurogene Blasenentleerungsstörung mit Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie. Sodann wurde ich von ihr über Vor- und Nachteile weitreichender Behandlungsmethoden aufgeklärt und wir versuchten, medikamentös eine Besserung zu erzielen. Schlussendlich entschied ich mich für die Behandlung mit Botox, die im Dezember dieses Jahres durchgeführt wurde. Sie wies mich ins Selbstkatheterisieren ein, um zu sehen, ob ich in der Lage bin, mir einen Katheter durch die Harnröhre bis in die Blase zu legen.

    Ich wollte mich zuallererst mit der Selbstkatheterisierung vertraut machen. Wie habe ich mich zu organisieren und welche Hindernisse sind zu beseitigen? Nachdem ich das Experiment an zwei aufeinanderfolgenden Tagen durchgeführt habe, weiß ich jetzt, dass ich mir für unterwegs eine kleine Kulturtasche zum Aufh ängen besorge, in die alle Utensilien hineinpassen. Ja, das Wasserlassen wird umständlicher und dauert länger. Dafür bekomme ich für die Zeit von etwa neun bis zwölf Monaten weitestgehend die Kontrolle über meine Blase zurück, was nicht heißt, dass ich ab dann nicht mehr inkontinent bin. Ich bin es noch! Ob die Behandlung mit Botox die Wahl für mehrere Jahre sein wird, kann ich jetzt noch nicht sagen. Vielleicht bleibe ich dabei, vielleicht ersehne ich mir doch die Schließmuskelprothese oder aber ich kehre zur Windel zurück. Leben ist Evolution, das ist meine persönliche Evolution.

    Wurden Sie in der Situation von Ihrer Familie und von Freunden aufgefangen?

    Meine Frau wusste von Anfang an Bescheid und nahm es als normal an. Nachdem klar war, dass meine Inkontinenz nicht vorübergehend ist, habe ich das im engsten Kreis der Familie kommuniziert. Ich habe großes Glück, von Menschen umgeben zu sein, die andere nicht nach Krankheiten beurteilen.

    Wie gehen Sie im Alltag mit Ihrer Inkontinenz um?

    Ich bin nun mal inkontinent und muss auf irgendeine Art und Weise damit klarkommen. Ich habe die Wahl, ob ich es mir im Alltag schwer oder leicht mache. Ich habe mich für Letzteres entschieden. Dass ich Windel trage, mache ich nicht zum Geheimnis, aber ich posaune es auch nicht in die Welt hinaus. Dadurch nehme ich mir viel Stress. Ich muss nicht immer hinterher sein, um z. B. Windelverpackungen oder Ersatzwindeln vor unserem Besuch zu verstecken.

    Die Hilfsmittel helfen mir, zum größten Teil unfallfrei zu bleiben und vor allem aktiv das Leben zu genießen! Verlasse ich das Haus für zwei Stunden und mehr, habe ich immer eine Ersatzwindel dabei. Ich lasse mir durch die Inkontinenz nicht den Spaß am Leben nehmen.

    Welche Situationen sind für Sie dabei besonders belastend?

    Situationen, in denen trotz Versorgung noch was daneben geht und ich mit nasser Hose in der Öff entlichkeit stehe. Das kann immer wieder mal passieren. Sei es aus falscher Einschätzung um die noch vorhandene Aufnahmekapazität der bereits benutzten Windel oder dem falschen Anlegen dieser.

    Welchen Rat möchten Sie anderen Betroff enen mit auf den Weg geben, und was sollte sich Ihrer Meinung nach in der Gesellschaft ändern, damit Betroff ene mehr Mut haben, über ihr Leiden zu sprechen?

    Macht euch im Kopf frei! Es muss euch egal sein, was andere darüber denken. Es ist deren Problem und nicht eures. Es hat nichts mit Verlust von Stärke oder einem Rückfall ins Babyalter gemein. Akzeptiert die Krankheit und geht damit ganz normal um. Ihr werdet merken, dass eure Mitmenschen nicht wirklich was davon mitbekommen. Das macht stark. Tragt notfalls noch eine Gummihose über eurer Windel. Die haben mich das eine oder andere Mal vor einen „Unfall“ in der Öff entlichkeit gerettet. Manchmal knistert es beim Gehen, die Windeln tragen je nach Saugkraft mal mehr oder weniger auf und sind eventuell unter der Jeans zu erkennen. Meine Erfahrung dazu ist: Es wird nicht bemerkt! Sollte dann doch mal wer was merken, so könnt ihr sicher sein, dass diese Person mit allergrößter Wahrscheinlichkeit selbst inkontinent ist und daher mit einer solchen Situation entsprechend umzugehen weiß.

    Inkontinenz Selbsthilfe e.V.

    Die Inkontinenz Selbsthilfe e.V. ist ein eingetragener, gemeinnützig anerkannter und ehrenamtlich tätiger Selbsthilfeverein, der im Jahr 2006 aus der eigenen Betroffenheit gegründet wurde. Neben Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit bietet der Verein die Möglichkeit zum gegenseitigen Erfahrungsaustausch unter Betroffenen. Zudem setzt sich die Inkontinenz Selbsthilfe e.V. auf unterschiedlichen Ebenen für die Interessen der Betroffenen ein.

    Inkontinenz Selbsthilfe e.V.

    www.inkontinenz-selbsthilfe.com

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