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    Paulas Reise

    Auf den Tod eines Kindes ist man nicht vorbereitet und es gibt keine Erklärung, keine Trostworte, die das Geschehene erträglich machen. Der Tod eines Kindes stürzt Eltern in tiefste Verzweiflung. Trauer und Angst, Schuldgefühle, aber auch Wut und Ohnmachtsgefühle angesichts der Endgültigkeit des Todes prägen den Alltag. Alle Hoffnungen und Träume für die Zukunft werden jäh zerstört und der Sinn des Lebens scheint plötzlich verloren gegangen zu sein. So ging es auch Sandra. Der Intensivkrankenschwerster ist das passiert, was keiner Mutter je passieren sollte. Sie musste ihr eigenes Kind sterben lassen. 

    Sandra

    Intensivkrankenschwester und Löwenmama

    Es passierte an einem Sommertag im August vor zehn Jahren. Sandra arbeitete im Krankenhaus, ihre Mutter kümmerte sich um die Kinder. Sie waren auf dem Weg zu einer Poolparty. Vorfreude, Gekicher, leuchtende Kinderaugen auf der Rückbank. Dann war alles dunkel. Ein betrunkener Lkw-Fahrer hatte das Auto übersehen. Die Kinder sowie die Großmutter kommen schwer verletzt ins Krankenhaus. 

    Bei Sandra klingelte es an der Tür. Davor standen Kriminalpolizisten und erzählten ihr vom Unfall. Alles Weitere nimmt sie nur noch durch einen Schleier wahr. Sie fährt ins Krankenhaus und da liegt sie, ihre kleine Paula, gerade mal vier Jahre alt. „Dort angekommen bot sich eines der schrecklichsten Bilder überhaupt. Seine kleine Tochter völlig hilflos an Maschinen mit lauter Infusionen, den ständigen Alarmtönen und mit Hämatomen im Gesicht und einem dicken Kopfverband zu sehen, ist ein Bild, das einen nie wieder loslässt. Ich saß Tag und Nacht an ihrem Bett, hielt ihre Hand, sang ihr Lieder vor und flehte sie immer wieder an, nicht zu gehen. Als Krankenschwester war mir klar, dass all das Flehen umsonst ist, denn mein kleines Mädchen war längst gegangen, ihr Gehirn hatte aufgehört zu arbeiten.“ 

    Sandra fasste einen Entschluss, der ihre Tochter weiterleben ließ: Sie gab ihr kleines Mädchen zur Organspende frei. „Dass Ärzte wie die Aasgeier um einen kreisen und einen dazu überreden wollen, diese Entscheidung zu treffen, ist ein Irrglaube. Ich sehe in meinem Beruf jeden Tag, wie Eltern an den Krankenbetten ihrer Kinder sitzen und weinen, hoffen und bangen, dass ein geeignetes Organ gefunden wird, das dem geliebten Kind das Überleben sichert. Wenn mein Kind schon nicht groß werden darf, sollten wenigstens andere Kinder die Chance auf ein glückliches Leben haben. Einige Stunden später wurde das Kreuz in Paulas Krankenakte geschrieben. Nun war mein kleines Mädchen offiziell für alle Ämter Tod. Aber ich hatte sie noch 24 Stunden bei mir, da die Suche der Deutschen Stiftung Organtransplantation losging. Am nächsten Morgen begleitete ich mein kleines Mädchen noch bis in den OP, küsste Paulas Stirn und überließ ihren Körper den Ärzten für die Explantation. Vor der Schleuse standen schon die grauen Koffer und warteten auf ihre Organe. Mein kleiner Sonnenschein schenkte zwei neue Leben. Ihre Leber ging an ein gleichaltriges Mädchen, die Nieren an einen Erwachsenen.“  

    Nach der Organentnahme kam Paula in die Gerichtsmedizin. Erst drei Wochen später konnte Sandra ihre Tochter beerdigen. „Wir haben ihr Grab ganz bunt gestaltet. Das war mir sehr wichtig. Paula war so ein Sonnenschein, war immer fröhlich – das sollte sie auch für alle sichtbar über ihren Tod hinaus bleiben.“

    Leben mit der Trauer – ein Tabu?

    Du musst …, du sollst …, jetzt wird es aber wieder Zeit – sehr selten kommt die Aufforderung „du darfst“. Du darfst trauern, verletzlich sein, selbst in der Aufgabe als Mutter Schwäche zeigen und Hilfe annehmen. Das musste auch Sandra erfahren. „Mein Umfeld konnte mit Paulas Tod überhaupt nicht umgehen. Ich wurde angestarrt, es wurde verlegen zur Seite geschaut. Hinzu kam das Unverständnis von vielen, dass ich die Organe meiner Tochter gespendet habe. ‚Du hast sie ausschlachten lassen‘, ‚Wie beim Metzger‘ – waren nur einige der Kommentare. Und nach einigen Wochen wurde mir nahegelegt, dass ‚es doch jetzt auch gut ist‘, es jetzt mit Trauern reicht. Mir kam es oft vor, als wäre zu trauern ein absolutes Tabu und einfach nicht gesellschaftsfähig.“ 

    Trauern darf kein Tabu sein. Wir dürfen trauern, wir dürfen Schmerz zulassen, rauslassen – leben. Zu Beginn der Trauerzeit hat der Tod seinen Platz im Alltag. Zu Beginn ist viel Verständnis und Hilfsbereitschaft da. Aber wann hört „zu Beginn“ auf? Ist das nach Wochen, Monaten oder vielleicht nach Jahren? Wer entscheidet, wann die Trauer zu Ende ist und wann ein „normaler“ Alltag wieder gelebt werden soll? Nur die trauernde Person weiß, was ihr guttut, und nur sie kennt ihr Trauertempo. Gerade beim Tod eines Kindes gibt es immer wieder Momente, auch nach Jahren, wo sich die Trauer massiv wieder aufdrängt. Nicht weil sie schwach machen möchte und auch nicht in der Sorge, dass wir zu leichtfertig unseren Alltag leben. Sie meldet sich, weil die Liebe zum Kind nie verloren gegangen ist. Trauer ist nachgetragene Liebe und Trauer hilft aus der Sprachlosigkeit. Sie ist existenziell. Man darf sie zulassen, sich auf sie einlassen und beobachten, was sie mit einem macht. Gefühle zu kalkulieren, ist nicht sinnvoll. Wie in der Liebe kann das Gefühl der Trauer zugelassen werden, denn die Trauer ist eines der stärksten Gefühle des Lebens. So auch für Sandra. „Jeder Tag ist anders. Manchmal ist die Trauer überwältigend – auch noch nach zehn Jahren. Paula wird immer ein Teil meines Lebens bleiben und ich muss ehrlich sagen: Hätte ich damals meine beiden Kinder nicht gehabt, wäre ich heute längst bei Paula.“

    ÜBER JUNGE HELDEN e. V.

    Junge Helden e. V. ist eine gemeinnützige Organisation, die deutschlandweit insbesondere junge Menschen über Organspende aufklärt. Mit der Veranstaltungsreihe „Ein Club voller Helden“, dem Aufklärungsfilm „Entscheidend ist die Entscheidung“ und zuletzt mit der „Live Saving Wallpaper“-Kampagne zeichnet sich Junge Helden e. V. immer wieder durch neuartige Ideen aus, um auf das Thema Organspende aufmerksam zu machen. Ziel des Vereins ist es, vor allem Jugendliche und junge Erwachsene zu motivieren, eine Entscheidung zu treffen und diese Angehörigen und Freunden mitzuteilen. 2003 von Claudia Kotter, ihrer Familie und ihrem Freundeskreis gegründet, wird der Verein heute von einem Kernteam sowie dem Engagement vieler ehrenamtlicher Unterstützer fortgeführt.

    Wenn man sich zu Lebzeiten nicht für oder gegen eine Organspende entschieden hat und der Hirntod diagnostiziert wird, müssen die Angehörigen über eine Organentnahme entscheiden. Wer einen Organspendeausweis ausgefüllt und seine Angehörigen über seinen Willen informiert hat, schützt sie davor, diese Entscheidung stellvertretend treffen zu müssen. Gerade in der Situation, in der man sich von einem Familienmitglied verabschieden muss, fällt es den meisten Menschen sehr schwer, diese Entscheidung im Sinne des oder der Verstorbenen zu treffen. Das ist sehr gut nachvollziehbar und sollte möglichst jedem erspart bleiben. In rund 70 Prozent der Fälle sind die Angehörigen bei der Entscheidung auf sich allein gestellt und müssen mit dem Zweifel leben, gegen den Willen des Angehörigen gehandelt zu haben.

    Umso wichtiger ist es, sich zu Lebzeiten mit seinem eigenen Tod auseinanderzusetzen und eine selbstbestimmte Entscheidung zu treffen.

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    Website: www.junge-helden.org

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