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    Wir können gemeinsam Wege finden, das Gewicht der Angst zu vermindern

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    „Zusammen der Angst das Gewicht nehmen“ lautet das Motto der diesjährigen Woche der Seelischen Gesundheit, die vom 10. bis 20. Oktober bundesweit mit über 600 Veranstaltungen stattfindet. Prof. Dr. Arno Deister, Vorsitzender des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit erklärt, wie man mit Ängsten in Krisenzeiten besser umgehen kann.

    Prof. Dr. Arno Deister

    Vorsitzender des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit

    Welche Rolle spielt Angst in der aktuellen gesellschaftlichen Situation?

    Jeder weiß, was Angst ist. Wir leben gerade n einer Zeit, in der viele Menschen Ängste empfinden. Sie nehmen sie als etwas wahr, das sich auf sie setzt und sie buchstäblich erdrückt. In diesem Jahr wollen wir in der „Woche der Seelischen Gesundheit“ darüber sprechen, wie man mit Ängsten umgehen kann, die in Krisenzeiten entstehen. Und wie man diesen Ängsten das Gewicht nehmen kann. Es ist nicht nur eine Krise da, sondern die Krisen türmen sich aufeinander: erst die Pandemie, dann der Angriffskrieg auf die Ukraine, die schon lange anhaltende Klimakrise, die Finanzkrise, die Wirtschaftskrise. Viele Menschen erfahren persönliche Krisensituationen, fühlen sich ohnmächtig und merken, wie niedrig die Schwelle ist zwischen „Es geht mir gut“ und „Ich bin in einer Krisensituation“. Sie bekommen mehr Verständnis für andere, weil sie erleben: „Das kann mir jederzeit auch passieren.“

    Was unterscheidet „normale“ Angst von einer Angststörung?

    Normale Angst ist nützlich. Sie schützt uns davor, bestimmte Gefahren einzugehen. Aber wenn die Angst unseren Alltag bestimmt, wenn sie übermäßig wird und sich von einem notwendigen Anlass löst, dann sprechen wir von einer Angststörung. Darunter leiden Menschen sehr stark. Aber wir können Angststörungen behandeln. Vor allen Dingen können wir darüber reden. Die „Woche der Seelischen Gesundheit“, die durch das Aktionsbündnis Seelische Gesundheit bundesweit koordiniert wird, ist eine Möglichkeit, dass wir zusammenkommen und uns austauschen – mit Menschen, die von psychischen Erkrankungen wie etwa Angststörungen betroffen sind, mit Angehörigen und Fachleuten, die sich in Städten und Regionen therapeutisch damit beschäftigen.

    Zwischen 15 und 20 Prozent aller Menschen machen im Laufe des Lebens eine Angsterkrankung oder eine depressive Erkrankung durch.

    Prof. Dr. Arno Deister

    2006 wurde das Aktionsbündnis Seelische Gesundheit gegründet und hat inzwischen rund 150 Bündnispartner. Warum gab es Bedarf für solch ein breites Netzwerk?

    Das Thema der psychischen Erkrankung wird häufig unterschätzt. Die meisten Menschen haben keine genaue Vorstellung davon, wie oft psychische Erkrankungen auftreten und wie stark sie die Gesellschaft beeinflussen. Um eine gesellschaftliche Wahrnehmung für dieses Thema zu schärfen, war es wichtig, ein solches Aktionsbündnis zu gründen und möglichst viele mit hineinzunehmen – und das vor allem trialogisch: gleichberechtigt mit Betroffenen, mit Angehörigen und mit denen, die sich professionell mit Präventions- und Hilfsangeboten befassen. Das ist ein Thema, mit dem sich nicht jeder auf Anhieb auseinandersetzen kann. Es existieren viele Mythen und Vorstellungen über psychische Erkrankungen, die Angst machen. Daher ist es wichtig, dass wir konkrete Informationen vermitteln und Menschen ansprechen. Das will das Aktionsbündnis machen, und der zentrale Bereich ist die Aktionswoche.

    Sie sind der Vorsitzende der Steuerungsgruppe des Aktionsbündnisses – was ist deren Aufgabe?

    Die Steuerungsgruppe ist eine Verdichtung von den Partnern des Aktionsbündnisses. Wir haben inzwischen 150 institutionelle Mitwirkende: vom kleinen Selbsthilfeverein vor Ort bis zu großen Institutionen – wie etwa der Bundesärztekammer und der Bundespsychotherapeutenkammer – und als Träger die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN). Die Mitwirkenden des Aktionsbündnisses wählen zwölf Vertreterinnen und Vertretern aus dieser Runde in die trialogisch besetzte Steuerungsgruppe. Diese wiederum wählt einen Vorstand von drei Personen aus den trialogischen Gruppen. Ich bin der Vorsitzende davon. Die Mitglieder der Steuerungsgruppe sind zum Teil ehrenamtlich tätig, zum Teil angestellt bei der Institution, die sie vertreten. Ihre Funktion für das Aktionsbündnis ist hundert Prozent ehrenamtlich.

    Psychische Erkrankungen sind laut Studien die zweithäufigste Ursache für eine Krankschreibung. Gibt es gesellschaftlich inzwischen eine größere Offenheit für dieses Thema?

    Es gibt Veränderungen in der Wahrnehmung und im Umgang damit. Es wird immer die Frage gestellt, ob psychische Erkrankungen zunehmen. Angsterkrankungen und depressive Erkrankungen werden – als Beispiel – in den letzten Jahren sehr viel häufiger diagnostiziert, weil wir aufmerksamer werden. Aber sie sind immer schon dagewesen.

    Zwischen 15 und 20 Prozent aller Menschen machen im Laufe des Lebens eine Angsterkrankung oder eine de- pressive Erkrankung durch. Damit sind sie in der Spitzengruppe aller Erkrankungen. Nur: Wir sehen es nicht immer. Weil Menschen z. B. mit depressiven Erkrankungen es nicht sichtbar machen wollen. Weil sie Sorge haben, wie andere damit umgehen. Sie wollen keine Schwäche zeigen. Da verbindet sich das: Wir können erst Menschen mit psychischen Erkrankungen helfen, wenn wir einen gesellschaftlichen Blick darauf haben und sie sich trauen, darüber zu sprechen. Wenn sich jemand das Bein gebrochen hat, wird er von allen bemitleidet und kann seinen Gipsverband zeigen. Über eine depressive Erkrankung, über eine Angsterkrankung zu sprechen, ist viel schwieriger. Und über eine Psychose in unserer Gesellschaft zu sprechen ist eine noch größere Herausforderung.

    Wie lassen sich die bestehenden Hürden und Ängste abbauen?

    Darüber reden ist ein extrem mächtiges Instrument. Einer unserer Slogans heißt: Reden hilft. Kommunizieren, Wissen vermitteln, Erfahrungen austauschen. Es gibt Methoden, mit denen Betroffene ihre Ängste in den Griff bekommen können. Etwa Entspannungstechniken in einer Gruppe lernen. Aber auch anfangen, Dinge zu hinterfragen: Wie realistisch ist meine Angst? Wie weit betrifft sie mich wirklich? Andere Menschen haben ähnliche Ängste. Wir können gemeinsam Wege finden, das Gewicht der Angst zu vermindern. Rauskommen aus der Hilflosigkeit, reinkommen ins Handeln. Im Sinne der Selbstfürsorge fragen, was kann ich für mich tun? Was kann ich in meinem Umfeld tun? Das sind gute Instrumente, um weniger Angst zu haben.

    Was kann die Gesellschaft, was kann jede und jeder Einzelne tun, um Menschen mit psychischen Erkrankungen unvoreingenommener zu begegnen?

    Engagement, Hilfe und Unterstützung läuft stark über Solidarität. Solidarität und Verständnis mit Menschen, die betroffen sind, aber auch Solidarität von allen anderen, die sagen: Wir tun etwas Gemeinsames. Dafür steht die Aktion Grüne Schleife. Sie ist ein sichtbares Zeichen: Ich traue mich, ich stehe dazu, dass es mir wichtig ist, dass wir uns um Menschen mit psychischen Erkrankungen kümmern. Das ist leicht gesagt, aber nicht leicht getan. Wir müssen unsere Vorstellung davon erweitern, was ethisch gerecht ist.

    Natürlich ist es wichtig, dass wir Menschen helfen und Schaden von ihnen abwenden. Das ist das, was Medizin immer versucht. Aber wir werden das heutzutage gerade in der Psychiatrie, in der Psychotherapie und in der Psychosomatik nicht können, ohne dass wir weitere, soziale Aspekte dazunehmen.

    Damit wären wir wieder beim Aktionsbündnis Seelische Gesundheit…

    Genau – beim Aktionsbündnis passt die Struktur zur Methode. Und die Methode passt zu den Menschen. Es ist ein Dreiklang aus Fachleuten, Betroffenen und Angehörigen. Wir brauchen diese Vielfalt, um etwas bewegen zu können.

    Zur Person

    Prof. Dr. Arno Deister war Chefarzt des Zentrums für Psychosoziale Medizin des Klinikums Itzehoe, 2017/18 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und ist seit 2021 Vorsitzender des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit.

    Vom 10. bis 20. Oktober 2023 setzt sich die bundesweite Aktionswoche unter dem Motto „Zusammen der Angst das Gewicht nehmen” mit dem Thema Ängste in Krisenzeiten auseinander. www.seelischegesundheit.net

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