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Krebs

„Man sollte den Mut haben, sich mit seiner Erkrankung und den Behandlungsmöglichkeiten auseinanderzusetzen“

Fotos: MiHo-Photography

Polycythaemia Vera (PV) ist eine seltene chronische Form von Blutkrebs. Ilona Beyer ist betroffen von PV und lebte jahrelang mit den Beschwerden, bevor die Erkrankung richtig diagnostiziert wurde und sie mit einer Therapie beginnen konnte. Mittlerweile kann sie wieder ein normales Leben führen. Warum es enorm wichtig ist, sich zur eigenen Erkrankung zu informieren und auch nach der richtigen Diagnose am Ball zu bleiben, erzählt sie uns im Interview.

Ilona Beyer

PV-Betroffene

Frau Beyer, es hat bei Ihnen einige Jahre gedauert, bevor Sie die Diagnose PV erhalten haben. Wenn Sie zurückblicken: Welche Symptome sollten Betroffene und Ärzte hellhörig werden lassen, da sie auf eine PV deuten können?

Eine ausgeprägte, bleierne Müdigkeit (sog. Fatigue) ist immer ein deutliches Warnsignal, das etwas gesundheitlich nicht stimmt. Im Zusammenhang mit schweren Krebserkrankungen spielt sie fast immer eine Rolle. Meine Familie versuchte damals stets, mich zu motivieren: Ich solle mich doch mehr bewegen und aktiver sein, dann würde sich das schon geben. Aber mein körperlicher Akku war komplett leer, ich hatte keine Energie und war entsprechend frustriert von diesen eigentlich gut gemeinten Motivationsversuchen.

Was sehr schlimm für mich war: Ich spürte plötzlich eine ausgeprägte Aggressivität und war ständig auf 180, was ich von mir so nicht kannte. Zudem hatte ich abends knallrote Hände, weil sie so stark durchblutet waren. Außerdem hatte ich Knochenschmerzen und Probleme mit dem Laufen, das haben aber nicht alle PV-Betroffenen. Ein Symptom, von dem fast alle PV-Patienten berichten, ist ein ausgeprägter und quälender Juckreiz, der besonders stark ist, wenn die Haut mit Wasser in Kontakt kommt. Bei mir ist dieses Symptom glücklicherweise nur sehr selten vorhanden, zum Beispiel, wenn ich im Sommer in der Sonne sitze oder mit heißem Wasser in Kontakt komme.

Sie haben sich nach Ihrer Diagnose intensiv mit Ihrer Erkrankung auseinandergesetzt. Warum ist das aus Ihrer Sicht so wichtig?

Für mich ist es sehr wichtig, den behandelnden Ärzten auf Augenhöhe begegnen zu können. Dazu muss man aber gut über seine Krankheit Bescheid wissen. Ich habe mich mit den wichtigen Werten auseinandergesetzt, die bei der PV eine Rolle spielen, um Laborergebnisse auch selbst zu verstehen. Ich habe mich über die verschiedenen Behandlungsoptionen informiert, um auch hier auf dem aktuellen Stand zu sein und bei den Therapieentscheidungen mit einbezogen werden zu können. Alle medizinischen Dokumente und Befunde lasse ich mir stets aushändigen, um sie selbst bei der Hand zu haben und mich damit auseinanderzusetzen.

Das gibt mir sehr viel Sicherheit, um für mich einzustehen.

Rückblickend hat mir dieses Wissen in der Vergangenheit schon mehrfach eine falsche Behandlung erspart, da ich nicht auf den Mund gefallen bin und ärztliche Entscheidungen durchaus hinterfragt habe. Das führte dann auch zu einem Arztwechsel. Seit ich im MPN-Zentrum in Mannheim in Behandlung bin, habe ich eine respekt- und vertrauensvolle Beziehung zu meinem Behandlungsteam und spüre hier deutlich, dass auch die Ärzte es zu schätzen wissen, dass ich eine gut informierte Patientin bin.

So sehen die Normwerte bei PV aus:

Leukozyten: 4 – 10 x 109/ l
Thrombozyten: 150 – 400 x 109/ l
Hämatokrit: Männer 43 – 49 %
Frauen 37 – 45 %
Hämoglobin: Männer 13,5 – 17,5 g / dl
(8,7 – 11,2 mmol / l)
Frauen 12 – 16 g / dl
(7,5 – 9,9 mmol / l)

Begriffe kurz erklärt:

Leukozyten: weiße Blutkörperchen (LEU, LEUK o.WBC)
Thrombozyten: Blutplättchen (THRO, PLT)
Hämatokrit: Anteil der zellulären Blutbestandteile am Volumen des Blutes (Hct, Hkt oder Hk)
Hämoglobin: Protein in den Erythrozyten zum Transport von Sauerstoff (Hb)

Quelle: DocCheck Flexikon

Die gute Nachricht ist, dass die PV mittlerweile gut behandelbar ist und Betroffenen verschiedene Therapieansätze zur Verfügung stehen. Wie sah Ihr Therapieweg aus?

Zu Beginn wurde ich mit Aderlässen behandelt, die natürlich unheimlich wichtig waren und mir direkt eine große Erleichterung verschafften. Die Wirkung hielt aber meist nicht lange an und es gab Nebenwirkungen, wie zum Beispiel brüchige Nägel und einen starken Eisenmangel, der wiederum eine extreme Müdigkeit zur Folge hatte. Im nächsten Schritt wurden die Aderlässe mit einer leichten Chemotherapie kombiniert. Das brachte meine Werte zwar auf ein besseres Niveau, aber meine Lebensqualität litt extrem. Ich sprach dann auch beim Arzt an, dass es mir ja nichts nützt, wenn zwar meine Werte toll aussehen, es mir aber trotzdem extrem schlecht geht. Ich konnte nicht mehr problemlos laufen, saß ab mittags daheim und war komplett ausgelaugt.

Ein geregelter Alltag war unmöglich, und damit wollte ich mich auf keinen Fall abfinden. Ein weiteres Medikament, das man hätte einsetzen können, wollte ich partout nicht ausprobieren, da es Depressionen als mögliche Nebenwirkung im Beipackzettel stehen hatte. Das wollte ich auf jeden Fall vermeiden, da ich damit schon bei einer früheren Hormonbehandlung aufgrund einer Endometriose und später einer Brustkrebserkrankung negative Erfahrungen gemacht hatte. Also fragte ich meinen Arzt, ob es nicht noch andere Behandlungsmöglichkeiten gibt. Das war 2017. Mein Arzt sagte mir, dass es noch andere Optionen gibt, aber er damit noch wenig Erfahrung hätte.

Ich sagte ihm damals ganz deutlich: „Ich brauche jetzt Hilfe, lassen Sie es uns bitte versuchen.“ Also starteten wir eine neue Behandlung.

Meine Lebensqualität hat sich im Zuge der Therapieanpassung enorm verbessert, ich kann nun wieder einen normalen Alltag führen, bin aktiv und stehe wieder mitten im Leben. Die einzige Nebenwirkung war, dass ich etwa 20kg zunahm. Das habe ich für das große Plus an Lebensqualität aber in Kauf genommen. Auch meine Werte bestätigen den Therapieerfolg: Die PV ist in meinem Blut mittlerweile kaum noch nachweisbar.

Was kann Betroffenen dabei helfen, selbst ein gutes Bild von ihrer Erkrankung zu gewinnen und selbstbewusst in Arztgespräche zu gehen?

Ich finde es an erster Stelle ganz wichtig, dass Betroffene folgendes verstehen: PV ist eine chronische Blutkrebs-Erkrankung, aber keine Krebserkrankung, die unmittelbar zum Tode führt. Man sollte den Mut haben, sich intensiv zur eigenen Erkrankung und den Behandlungsmöglichkeiten zu informieren, dafür gibt es auch im Internet verlässliche Anlaufstellen wie zum Beispiel das MPN-Netzwerk, die fundierte Informationen zusammenstellen, die auch wissenschaftlich geprüft sind. Man sollte sich unbedingt mit den wichtigsten Werten auseinandersetzen, um dem Arzt auch die richtigen Fragen stellen zu können.

Viele trauen sich das nicht, obwohl es um ihre eigene Gesundheit und damit auch die eigene Lebensqualität geht.

Zudem sind viele Faktoren, die einen Krankheitsverlauf bestimmen, nicht nur in den Laborwerten abgebildet. Patienten können ihrem Behandlungsteam also wichtige Informationen zur Verfügung stellen, die bei der Therapieentscheidung berücksichtigt werden sollten, um die bestmögliche Behandlungsstrategie zu finden. Ich rate daher jedem Patienten, mit dem ich spreche, sich an ein spezialisiertes MPN-Zentrum zu wenden. Denn dort habe ich es bisher immer so erlebt, dass sich für den Patienten auch die Zeit genommen wird, die er braucht. Dort begegnet man Betroffenen mit der nötigen Empathie, die es für eine Arzt-Patienten-Beziehung auf Augenhöhe braucht.

Weitere Informationen finden Sie unter:

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