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    Lust auf Leben

    Fotocredit: Lily Cummings

    Clemens ist voller Energie, Ehrgeiz und großer Lebenspläne, als die Diagnose Colitis ulcerosa ihn wie ein Schlag trifft. Im Interview spricht er über seinen Weg zurück ins Leben. 

    Clemens, wann hast du das erste Mal gemerkt, dass da was mit deinem Verdauungstrakt nicht stimmt?

    Im Sommer 2013 traten die ersten Symptome auf. Ich hatte ständig Bauchschmerzen und einen Blähbauch, mir fehlte Energie und ich war nicht belastbar. Anfangs habe ich einen Infekt vermutet. Als es aber nicht aufhörte, bin ich zum Arzt gegangen. 

    Wie ging es weiter?

    Anhand des Blutbildes hat der Arzt festgestellt, dass die Leberwerte sehr stark erhöht waren. Er fragte wiederholt, ob ich kürzlich Drogen und/oder Alkohol konsumiert hätte. Dem war aber nicht so. Daraufhin wurde eine Magen-Darm-Spiegelung durchgeführt, die dann zeigte, dass mein Darm großflächig entzündet war. Es wurde zunächst vermutet, dass es eine Colitis ulcerosa ist. Nach einigen Untersuchungen in der Charité Berlin bestätigte sich der Verdacht, zudem wurde dort die Begleiterkrankung primär sklerosierende Cholangitis (PSC) – eine selten auftretende chronische Entzündung an den Gallenwegen – diagnostiziert.

    Eine solche Erkrankung bedeutet einen großen Einschnitt im Leben. Was hat die Diagnose mit dir gemacht und wie bist du damit klargekommen, plötzlich einen lebenslangen Begleiter zu haben, der dir das Leben schubweise schwer machen würde?

    Im Nachhinein lassen sich die Gefühle und Erlebnisse von damals in drei Schritten beschreiben. Ich steckte mitten im Masterstudium, war sehr ehrgeizig und hatte klare Vorstellungen von meinem Leben und meiner Laufbahn. Mit der Diagnose brach dieses Kartenhaus einfach in sich zusammen. Ich habe mir dann immer wieder die Frage gestellt, ob und wofür es sich zu kämpfen lohnt, und mich dem Ende näher gefühlt als dem Leben. Dieser Zustand hielt eine Weile an, bis mir die Beantwortung ebendieser Frage weiterhalf. Im zweiten Schritt – begleitet von Untersuchungen, Arztbesuchen und Krankenhausaufenthalten – gab es für mich drei Motivatoren, die mich zurück ins Leben holten: die Familie mit Eltern und Geschwistern, meine damalige Partnerin und ihre Tochter und ganz einfach meine Bildungsschulden. Auch wenn es zunächst trivial klingen mag, wollte ich doch niemandem einen Schuldenberg hinterlassen. Also habe ich mich für das Leben entschieden und mich im dritten Schritt zurückgekämpft.

    Bitte gehe genauer auf diese Lebensphase ein. 

    Der Weg war sehr steinig. Etwa ein Jahr nach der Diagnose mündete alles in einer Sepsis. Selbst Antibiotika über längere Zeit und in allen erdenklichen Konstellationen konnten keine Beruhigung und Verbesserung meines Zustands bewirken. Als mir meine Ärztin dann mitteilte, dass als letzter Ausweg nur noch eine Operation infrage käme, ist für mich die Welt zusammengebrochen, da braucht man sich nichts vormachen.

    Inwiefern?

    Einem klaren Menschenverstand ist es kaum zu vermitteln, dass man lediglich weiterleben kann, wenn einem ein Organ aus dem Körper entnommen wird, das bis dahin beste Dienste geleistet hat. Das war für mich schwer zu verstehen, aber mir blieb nichts übrig und ich habe mich der Operation unterzogen. Die Worte des Chirurgen, dass es mir danach erwartungsgemäß viel besser gehen würde, sind in meinen Ohren verhallt. Für mich fühlte es sich zu diesem Zeitpunkt an wie die größte Niederlage meines Lebens. Der Erkrankung gegenüber stand ich an dieser Stelle als bis dahin selbstbestimmter Mensch ohnmächtig gegenüber, das war ich nicht gewohnt.

    Wie ging es dir nach der Stoma-Operation?

    Nach Bewältigung der Operation und der anschließenden Genesungszeit ging es mir besser, sehr viel besser. Die über Jahre verloren gegangene Energie ist wieder in meinen Körper zurückgekehrt, durch das Absetzten der bis dahin verabreichten Medikamente sind auch viele damit einhergehende Nebenwirkungen verschwunden. Und das Wichtigste: Ich konnte wieder (fast) alles essen! In meinem Körper fand nach langer Abstinenz eine Endorphinparty statt, die ich nach Jahren wieder in vollen Zügen genießen konnte.

    Fotos: Privat

    Wie verlief dein Alltag mit deinem Stoma?

    Glücklicherweise ist mir die Fingerfertigkeit zur Pflege des Stomas schnell leichtgefallen. Den täglichen Wechsel des Beutels habe ich mir zunutze gemacht, um den Tag zu reflektieren, um zu mir zu kommen und Zeit für mich zu haben. Recht zügig sind diese Notwendigkeiten völlig selbstverständlich in den Alltag übergegangen. Das damals gelernte und bewusste Durchkauen der Nahrung und das damit verbundene langsame Essen habe ich mir bis heute beibehalten. Das Stoma nahm ich einfach für das, was es war: der Tausch gegen ein unkontrollierbares Monster, ein Lebensretter, die größte Chance seit Beginn der Erkrankung. Diese Chance habe ich versucht bestmöglich zu ergreifen. Mit dem Stoma konnte ich dem Studium weiter nachgehen und dieses erfolgreich abschließen.

    Woher hast du die Kraft genommen, so positiv zu bleiben?

    Vor allem aus der Familie, dem Freundeskreis und dem Humor, aber auch aus der Erkenntnis, dass die Erkrankung, die ich habe, für nichts, aber auch gar nichts eine Entschuldigung sein soll. Zudem gab mir der Chirurg, der mir damals das Stoma anlegte, einen positiven Anstoß. Er sagte: „Das Einzige, was Sie von mir unterscheidet, ist, dass Sie nun eine Tüte am Bauch tragen. Leben Sie Ihr Leben wie alle anderen auch – und genießen Sie es.“ Da dachte ich: „Okay, er trägt die richtigen Schuhe, also wenn er das so sagt, dann mache ich das.“ Und das habe ich auch getan: Ich habe trotz Stoma versucht, das Beste aus jedem Tag zu machen.

    Wie ging es weiter? 

    Ich habe die Operationen zur Rückverlagerung des Stomas machen lassen. Auch hier waren die anschließenden Genesungszeiten nicht einfach. Es gibt jedoch sensationelle Medikamente, die überaus hilfreich sind. Danach habe ich begonnen, mich ans Arbeitsleben heranzutasten, was gut funktionierte. Dank dem Verständnis und der großen Chance, die mir meine jetzigen Chefs gaben, bin ich nun seit fast 4 Jahren Vollzeit in einem Planungsbüro tätig, hier fühle ich mich auch im Kollegium sehr wohl. Sollte dies so irgendwann nicht mehr möglich sein, dann weiß ich, dass ich vor dem Stoma keine Angst haben muss. Es wäre eher so, als würde ich dann mit einem alten Bekannten wieder sehr viel Zeit verbringen können.

    Colitis ulcerosa ist eine Erkrankung, die man Betroffenen nicht auf den ersten Blick ansieht. Wie gehst du persönlich in deinem Umfeld mit der Erkrankung um?

    Anderen gegenüber gehe ich sehr offen damit um, bringe es aber meist nicht aktiv zur Sprache. Ich beantworte Fragen sehr gerne, versuche aufzuklären und Missverständnisse und Verlegenheiten aufzulösen. Für mich selbst fühlt es sich manchmal so an, als würde ich ein launisches und störrisches Tier erziehen müssen, gebe mir dennoch große Mühe, dass diese Erkrankung und alles damit Verbundene in meinem Leben nicht den Fahrplan vorgibt. Das ist nicht immer einfach und dazu gehören auch unangenehme Schritte, völlig klar. Aber an dieser Stelle ist mir meine Integrität sehr wichtig! Ich möchte nicht, dass mich eine Erkrankung daran hindert, das Leben als unerklärliches Geschenk in vollen Zügen genießen zu können, mit Menschen, die mir wichtig und nah sind, und an Orten, an denen ich mich geborgen und wohlfühlen kann. Wenn dazu eine Plastiktüte am Bauch oder ein umgebauter Arsch notwendig ist, dann ist das eben so. 

    Fotoprojekt “Bodies on Paper”

    Die Fotografin Lily Cummings lebt derzeit in Berlin, stammt aber ursprünglich aus den USA. Das Coverbild unserer Ausgabe entstand im Rahmen ihres Fotoprojektes „Bodies on Paper“: Das Ziel ist es, ein breites Spektrum der Schönheit des menschlichen Körpers in allen Facetten zu zeigen.

    Mehr zum Fotoprojekt und zur Fotografin:
    www.lilycummings.com

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