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    „Niemals den Kopf verlieren“

    Fotos: Felix Petermann

    Mit fünfeinhalb Jahren erhielt der Hockey-Nationalspieler Timur Oruz (27) die Diagnose Diabetes Typ 1. Was das für ihn bedeutet hat, wie er trotz Erkrankung einer der besten Hockey-Spieler der Welt wurde und warum süße Gummischlangen eine seiner größten Herausforderungen waren, erzählt er im Interview. 

    Bereits als Kleinkind wurde bei Ihnen die Diagnose Diabetes Typ 1 gestellt. War es ein Zufallsbefund oder gab es schon frühzeitig Hinweise darauf? 

    Ich hatte das Glück, dass meine Eltern beide Ärzte sind und meine Mutter als Kinderärztin die Warnsignale früh erkannt hat. Ich hatte die typischen Symptome. Ich hatte sehr großen Durst, war abgeschlagen, musste oft auf die Toilette.  

    Kann man als Kind überhaupt etwas mit dem Begriff „Diabetes“ anfangen, es irgendwie für sich einordnen?

    In dem Alter absolut nicht. Zur damaligen Zeit war die Krankheit auch noch viel mehr stigmatisiert als heute. Dennoch besteht nach wie vor großes Aufklärungspotenzial, was die Erkrankung betrifft. Ich war als Typ-1-Diabetiker von Anfang an insulinpflichtig und wurde gespritzt. Anfangs bin ich vor den Nadeln weggerannt – die waren damals wirklich noch groß und recht dick. Zum Glück kam relativ schnell der nächste Stepp mit dem Insulin-Pen. Ich habe durch einige harte und einige weniger harte Erfahrungen gelernt, mit der Krankheit zu leben. 

    Was waren denn die harten Erfahrungen?

    In der ersten Manifestationswoche im Krankenhaus durfte ich zusammen mit meiner Mutter in den Zoo, weil die Hockeymannschaft einen Ausflug dorthin gemacht hat. In der Mittagspause gab es kistenweise diese süßen, platten Gummischlangen mit Zucker oben, unten, seitlich – überall. Alle haben sich natürlich draufgestürzt. Ich auch. Meine Mutter hat mich zurückgehalten und mir gesagt, dass ich das wegen meiner Erkrankung nicht mehr darf. Das war meine erste und dem Alter entsprechend auch eine meiner härtesten Erfahrungen. 

    Mit welchen Vorurteilen und Mythen rund um die Erkrankung hattest du als Kind und Jugendlicher zu „kämpfen“?

    Ich hatte das große Glück, dass ich nicht übergewichtig oder pummelig war. Dadurch gab es dieses Vorurteil, man habe die Erkrankung nur, weil man zu dick sei, nicht. Natürlich habe ich auch ein paarmal gehört, dass ich zuckerkrank sei, weil ich zu viele Süßigkeiten gegessen hätte. Das hat mich schon genervt. Doch ich bin immer sehr offensiv und positiv mit der Erkrankung umgegangen und habe Skeptikern schnell den Wind aus den Segeln genommen. 

    Du hast mit vier Jahren deine Leidenschaft für Hockey entdeckt. Hat deine Erkrankung dich beeinträchtigt? 

    Ich kann mich nicht erinnern, dass ich längere Zeit ausgefallen bin. Zudem war der Sport auch der Schlüssel für ein weiterhin normales Leben. Ich habe beispielsweise auch relativ schnell gemerkt: Wenn ich mich genug bewege, kann ich auch mal meine geliebten Zuckerschlangen essen (lacht).


    Viele bewundern deinen Ehrgeiz und deine Disziplin. Worauf musst du beim Training als Diabetiker besonders achten?

    Es gibt sehr viele Dinge, die ich managen muss. Einerseits muss ich versuchen, vorher oder während der Einheit die Belastung abzuschätzen, die Intensität einzuordnen, das in den Gesamtkontext des Tages, der letzten Insulingabe und des letzten Essens zu setzen, damit ich grob vorhersehen kann, wie der Zucker sich verhält, und notfalls gegenzusteuern, um unterm Strich mit den möglichst besten Werten durch das Training zu kommen, weil ich dann auch am leistungsfähigsten bin. Das ist sehr komplex und kann auch nicht immer erreicht werden. Über die Jahre habe ich den besten Mittelweg für mich gefunden und gelernt zu akzeptieren, auch an schlechteren Tagen nicht den Kopf zu verlieren. 

    2016 und 2021 ist ein großer Traum für dich in Erfüllung gegangen: die Olympischen Spiele. Was waren dabei die größten Herausforderungen?

    Definitiv das Mensaessen (lacht), denn das kann man so gar nicht einschätzen. Für mich war die Lösung dann, einfach immer das Gleiche zu essen: Nudeln mit der gleichen Soße, das gleiche Brot mit dem gleichen Aufschnitt. Das war zwar eintönig, doch für meine Leistung und meine Gesundheit habe ich das gern in Kauf genommen.

    Ist das Thema Ernährung auch im normalen Alltag für dich eine Herausforderung? 

    Viele denken, dass es ein viel größerer Teil ist, als es eigentlich ist. Ich ernähre mich vollkommen normal und verzichte auch auf nichts. Wenn ich Lust auf Süßes oder Pizza habe, esse ich es. Ich kann das durch den Sport sehr gut verstoffwechseln und habe keine Probleme dadurch. 

    Was bevorzugst du und warum: Insulinpumpe oder ein Pen?

    Ich spritze noch mit dem Pen. Der Grund: Never change a running system. Ich mache das fast von Anfang an so und bin damit sehr gut durchs Leben gekommen, besonders in Bezug auf den Sport. Ich muss aber sagen, dass ich mich gerade sehr intensiv mit dem Thema Insulinpumpe auseinandersetze und ich mir gut vorstellen kann, es noch in diesem Jahr auszuprobieren. Spätestens nach meiner Profisportlerlaufbahn werde ich auf die Pumpe umsteigen. 

    Und zum Schluss: Was sind deine Pläne und Ziele für die Zukunft?

    So richtig kann ich das noch nicht beantworten. Es steht im Raum, ein drittes Mal Olympia zu versuchen, also Paris 2024. Ob ich das machen möchte, entscheidet sich Anfang 2022. Andere sportliche Ziele sind, noch einmal den Titel „Deutscher Meister“ mit dem Verein zu holen und die Champions League noch einmal zu gewinnen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist mein Medizinstudium, bei dem ich langsam Richtung Zielgerade einbiege. Ich muss jetzt für mich entscheiden, wo ich die Priorität für mein Leben setze – noch einmal der Sport oder doch eher Studium und Beruf?

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