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    Nicht-dystrophe Myotonien – Leben mit Muskeln in Dauerspannung

    Foto: SOMKID THONGDEE via Shutterstock

    Prof. Dr. Christiane Schneider-Gold

    Katholische Klinikum Bochum gGmbH,
    St. Josef-Hospital, Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum

    Wer an einer Variante der seltenen genetisch bedingten Nicht-dystrophen Myotonien (NDM) leidet, erlebt seinen Alltag angespannter als gesunde Menschen: Betroffene sind je nach Ausprägung der erblichen Erkrankung mehr oder weniger gut in der Lage, ihre Muskeln nach dem für eine Bewegung nötigen Anspannen sofort wieder zu entspannen. Stattdessen versteifen sich ihre Muskeln und blockieren vorübergehend weitere Bewegungen. Im Interview erklärt Prof. Dr. Christiane Schneider-Gold vom St. Josef-Hospital Bochum, Katholisches Klinikum Bochum, Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum, wie NDM-Patienten ihre alltäglichen Muskelkrämpfe erleben. Außerdem informiert sie über Krankheitsursache, Verlauf und bewährte Therapien.

    Was sind Nicht-dystrophe Myotonien und wie äußern sie sich? 

    Nicht-dystrophe Myotonien sind seltene, genetisch bedingte Erkrankungen. Wir sprechen von rund 700 diagnostizierten Fällen in Deutschland, wobei es sicher eine Dunkelziffer gibt. Ursächlich für die NDM sind Mutationen der spannungsabhängigen Ionenkanäle der Skelettmuskulatur.  Eine Dysfunktion dieser Kanäle führt zu Veränderungen des Aktionspotenzials und damit der elektrischen Aktivität der Muskelfasermembran, was die Muskelentspannung nach einer willkürlichen Bewegung blockiert. Im Alltag und in der klinischen Untersuchung ist daher eine verzögerte Entspannung der Muskeln nach einer Anspannung, wie sie für einen natürlichen Bewegungsfluss unerlässlich ist, das vorherrschende Zeichen der Erkrankung. Betroffene werden zum Beispiel beim Greifen von Gegenständen, Aufstehen, Treppensteigen oder Losgehen an einer grünen Ampel plötzlich von ihren eigenen Muskeln gebremst. Deren abrupte Versteifung birgt ein nicht unerhebliches Unfallrisiko. Mit der Blockade der Muskelentspannung können aber auch Schmerzen, eine vermehrte Müdigkeit und eine teils temperaturabhängige und belastungsabhängige Muskelschwäche einhergehen. 

    Wie verlaufen NDM typischerweise?

    Oft zeigt sich die Erkrankung schon in früher Kindheit, sodass Betroffene sich an ihre Muskelsteifigkeit und Verkrampfungen sowie eingeschränkte insbesondere feinmotorische Beweglichkeit gewöhnen. Gerade wenn es ähnliche Fälle in der Familie gibt, empfinden sie die Beschwerden oft als normal oder zumindest typisch für die eigene Familie. Mit den Jahren können die Muskelsteifigkeit und Muskelverkrampfungen jedoch häufiger und/oder heftiger werden bzw. auch mit beruflichen Anforderungen wie hohem Schreibtempo über längere Zeit am PC oder starken körperlichen Belastungen auch in kalter Umgebungstemperatur interferieren. Mitunter treten auch muskelkaterähnliche Schmerzen im Rücken und in den Gliedmaßen auf. Die Muskulatur ermüdet eher und ist insgesamt weniger belastbar. Erst solche, teils auch neue, Anzeichen führen die Betroffenen – und nicht selten nach erfolgloser Selbstbehandlung mit Hausmitteln – schließlich oft zum Arzt. 


    Bei seltenen Krankheiten brauchen Diagnosen oft viel Zeit. Wie ist das bei NDM? 

    Mein Rat ist der: Wer „unklare Muskelkrämpfe“ über eine längere Zeit erlebt, die mit Tätigkeiten im Alltag interferieren, sollte sich zur Abklärung unbedingt an in neuromuskulären Erkrankungen erfahrene Kolleginnen und Kollegen bzw. ein neuromuskuläres Zentrum wenden, um schnell eine zuverlässige Diagnose zu bekommen. Die NDM lassen sich klinisch, mittels der Elektromyografie (EMG) zur Bewertung der elektrischen Muskelaktivität, und molekulargenetisch sicher diagnostizieren bzw. ausschließen. 

    Was halten Sie von gut informierten Patienten?

    Ich begrüße es sehr, wenn sich Patienten und Patientinnen gut informiert haben und ihre Beschwerden und mögliche Auslöser präzise schildern können. Gut informiert sein heißt, dass sich die Patienten und Patientinnen mit ihren Symptomen sehr bewusst auseinandergesetzt haben, diese meist sehr präzise schildern können und zur Erhebung der Krankengeschichte wertvolle Angaben machen können. Diese können gerade bei den NDM viel zur Diagnosestellung beitragen. Das hilft uns Medizinern sehr. Außerdem beobachte ich, dass wer gut informiert ist und sich auch mögliche Therapien angeschaut hat auch oft schon weiß, was er/sie will, bzw. auch genauer das eigene Therapieziel formulieren kann. Das wiederum erleichtert das gemeinsame Entwickeln eines individuellen Therapieplans.

    Wie behandeln Sie diese seltenen NDM? 

    Bewährt haben sich sogenannte Antimyotonika in Tablettenform, die unter anderem auch gegen Herzrhythmusstörungen oder Epilepsie wirken und die elektrische Aktivität der Muskelmembran zu einem wesentlichen Teil normalisieren. Da diese Medikamente jedoch nicht nur an (den Ionenkanälen) der Skelettmuskulatur, sondern auch am Herzmuskel wirksam werden können, ist eine begleitende Kontrolle der Herzgesundheit nötig. Alternativ zu nennen sind Antiepileptika, wobei deren typische Nebenwirkungen berücksichtigt werden müssen. Außer für die Substanz Mexiletin liegt für die infrage kommenden Medikamente momentan keine offizielle Zulassung vor (sogenannter Off-Label-Status). Dies ist bei Medikamenten, die bei seltenen Erkrankungen eingesetzt werden, häufig der Fall, schränkt aber die Möglichkeit, diese zu verschreiben, ein.

    Welche Behandlung wünschen Sie sich für Ihre NDM-Patienten? 

    Mit den beschriebenen symptomatischen Therapien kann dem größten Teil der Betroffenen ein nahezu normaler Alltag ermöglicht werden. Dennoch wünsche ich meinen Patienten und Patientinnen Medikamente, die die Muskelkanäle selektiver anpeilen. Und natürlich träume ich von einem therapeutischen Ansatz, der auf die Ursache der Erkrankung abzielt, das heißt einer genetischen Therapie, die keine lebenslange Medikamenteneinnahme erforderlich macht. 

    „Mensch & Myotonie e. V.

    Die gemeinnützige Patientenorganisation „Mensch & Myotonie e. V.“ unterstützt NDM-Betroffene bei allen Fragen rund um die Myotonie.  Die Organisation bietet u. a.:
    Erfahrungsaustausch
    Persönliche Mitgliedertreffen
    Klinikempfehlungen und Informationen zu Medikamenten von Vereinsmitgliedern
    Zusammenarbeit mit renommierten Neurologen

    Die Patientenorganisation wird zu 100 Prozent ehrenamtlich geführt und erhebt deshalb keinerlei Beiträge oder Gebühren für die Mitglieder. Weitere Informationen finden Sie unter menschundmyotonie.de.

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